Anke Wolfram: "Es geht darum, Natur als Bildungsraum zu verstehen"
Wald- und Naturkindergärten liegen im Trend. Warum ist das so?
Der Bundesverband Wald- und Naturkindergärten geht von Schätzungen aus, nach denen es bundesweit 1.500 Waldkindergärten gibt. Möglicherweise sind diese Zahlen aber schon wieder veraltet, denn es hat sich in den vergangen Jahren viel getan. Ich denke, das hat zwei Ursachen. Einerseits kommt das Konzept bei Eltern inzwischen sehr gut an, sie erkennen zunehmend, welche Vorteile es hat, Kinder draußen in der Natur zu erziehen und zu bilden. Auch gibt es generell eine gesellschaftliche Tendenz, wieder mehr raus in die Natur zu gehen. Die andere Ursache ist wohl, dass es einfach auch ein ökonomisches Konzept ist. Viele Gemeinden oder Städte brauchen dringend mehr Kindergartenplätze. Und da kann die Gründung von einem Waldkindergarten oder einer an einen Hauskindergarten angegliederte Waldgruppe auch eine günstige Lösung sein. Die Investition für eine Waldgruppe ist wesentlich geringer als ein Anbau oder der Neubau eines Kindergartens.
Man hat den Eindruck, dass auch mehr für Waldkindergärten geworben wird.
Ja. Früher waren viele Waldkindergärten auf Elterninitiative hin gegründete Einrichtungen und die Werbung hat sich oft auf Aushänge in Bioläden und ähnliches beschränkt. Da hat es einen Wandel gegeben. Inzwischen wird anerkannt, dass Waldkindergärten zu den Bildungseinrichtungen der Region gehören, sie sind gewissermaßen etabliert.
Welche Eltern entscheiden sich für einen Waldkindergarten?
Noch vor zehn Jahren waren es hauptsächlich Eltern, die selbst sehr naturverbunden waren, vielleicht als „Ökos“ galten. Inzwischen ist es auch hip geworden. Das hat eine eigene Dynamik bekommen. Eltern machen sich heutzutage viel mehr Gedanken über Bildung und Erziehung ihrer Kinder. Die Schlagworte sind: Zurück zur Natur. Mit allen Sinnen lernen. Gegen das technisierte lernen. Mittlerweile interessieren sich auch Familien einfach deshalb, weil der Waldkindergarten in Wohnortnähe ist. Es gibt leider noch sehr wenige Familien mit Migrationshintergrund, die sich für das Konzept interessieren, aber auch das nimmt zu.
Wie war das in Ihrer Kita, den Waldkindern Regensburg? Hat sich dort auch die Zielgruppe verändert seit der Gründung vor elf Jahren?
Auch unser Kindergarten wurde von einer Elterninitiative gegründet, von Eltern, die selbst sehr gerne in der Natur unterwegs waren. Das Konzept war etwas Neues, etwas Besonderes, und so kamen viele Familien zu uns, die gar nicht aus dem Ort stammten, wo sich der Kindergarten befindet. Die meisten Eltern legten dafür täglich ein paar Kilometer Fahrstrecke zurück. Inzwischen kommen die meisten Kinder unserer Einrichtung aus der Gemeinde. Wir gelten dort weniger als etwas Besonderes, sondern einfach als eine qualitativ gute Einrichtung.
Im Waldkindergarten geht es vor allem darum, dass Kinder frühzeitig Naturerfahrung machen, und dass sie in der Natur zu starken Persönlichkeiten reifen. Bisher wurde das pädagogische Konzept dahinter meist als „Natur-“ oder auch „Waldpädagogik“ bezeichnet. Sie haben ein Buch geschrieben, indem sie von „Naturraumpädagogik“ sprechen.
Bislang ist noch nie wirklich ein pädagogischer Ansatz zum Waldkindergarten formuliert worden. Man hat sich immer verschiedener Strömungen bedient und man spricht viel von der „Waldpädagogik“. Dieser Begriff kommt aber eigentlich aus der försterlichen Bildungsarbeit, bei der es darum geht, den Kindern Wald und die Natur pädagogisch zu vermitteln. Naturbildung ist aber nur ein Aspekt bei Waldkindergärten. Letztendlich werden in dem Konzept alle Bildungsbereiche abgedeckt. Es kann genauso gut ein politisches oder historisches Thema im Waldkindergarten aufgegriffen werden oder ein mathematisches.
„Naturraumpädagogik“ bedeutet also, dass die Natur nur der Raum ist, in dem die Pädagogik stattfindet, aber nicht zwingend ihr erster Bildungsinhalt?
Genau. Es geht darum, Natur als Bildungsraum zu verstehen. Das kann ein Wald oder eine Brachfläche sein oder angrenzende Wiesenstücke und es gibt auch Strandkindergärten. Waldkindergärten befinden sich also nicht zwingend im Wald und daher wollte ich mit dem Begriff „Naturraumpädagogik“ einen Begriff schaffen, der uns Pädagogen besser vereint.
Warum ist es wichtig für Kinder, raus in die Natur zu kommen?
Zum Einen hat die Natur einen sehr großen gesundheitlichen Faktor für Kinder. Ihr Immunsystem wird gestärkt und die ganze motorische Entwicklung gelingt besser, weil viel mehr Bewegungsanlässe und Freiräume da sind. Auch hinsichtlich der Konzentrationsfähigkeit bewährt sich der Bildungsraum Natur. Der Lärmpegel ist viel geringer als in einem Hauskindergarten. Das Andere ist, dass die Natur als Bildungsraum ein sehr vielfaltiges Angebot bietet und Kinder die Möglichkeit haben, forschend, der kindlichen Neugierde folgend, zu lernen. Kinder im Alter von Null bis sechs, sieben Jahren lernen hauptsächlich über das Spielen, über das Entdecken. Sie stellen sich immer wieder neuen Herausforderungen. In der Natur ist kein Tag wie der andere, es sind jeden Tag, auch im gleichen Waldstück, unterschiedliche Entdeckungen zu machen und Entscheidungen zu treffen, das macht diesen Bildungsraum so wertvoll.
So eine Kindheit stärkt auch das Sozialverhalten, die Sozialkompetenz. Wie kann man das erklären? Für viele Eltern in der Stadt ist das schwer vorstellbar, weil sie denken, soziale Kompetenz bedarf vor allem anderer Menschen, nicht anderer Eichhörnchen.
Im naturraumpädagogischen Konzept ist das Spielmaterial einfach die Natur. Die Kinder suchen sich Stöcke, bauen Hütten daraus, gestalten ihre Spielräume selbst. Der gleiche Stock kann heute Schwert und Messer sein und morgen oder für eine andere Gruppe von Kindern ist er Kochlöffel oder Steckenpferd. Es gibt eine große Zuschreibungsvielfalt für die Dinge, welche die Kinder im Naturraum finden, und darüber müssen sie miteinander kommunizieren. Es sind vorwiegend Spiele, die im Rollenspiel stattfinden oder Spiele, Unternehmungen, Aktionen, bei denen sich Kinder miteinander absprechen müssen. Untereinander, aber auch mit ihren Pädagogen. Sie müssen auch selbst mitüberlegen, was steht heute auf dem Programm, was gilt es zu bewältigen. Heute regnet es, da brauchen wir ein Regendach, wo müssen wir da hingehen, was müssen wir uns konstruieren?
Manche Eltern wollen ihre Kinder nicht in einen Waldkindergarten schicken, weil sie Sorge haben, dass sie nicht ausreichend auf das Erwachsenenleben vorbereitet werden. Denn dort werden sie ja keine Baumhäuser bauen, sondern einen Computer bedienen, Englisch sprechen und eine Steuererklärung ausfüllen müssen. Was antworten Sie diesen Eltern?
Den Eltern geht es in erster Linie um die Schule: Wird mein Kind da auch schulfähig? Dazu muss man wissen, dass Waldkindergartenkinder eine riesige Motivation für die Schule mitbringen, weil das Konzept Schule so anders ist. Dieses Neue begeistert und motiviert die Kinder. Im Waldkindergarten verstehen sich Pädagogen als Bildungsbegleiter, nicht als Wissensvermittler. Sie schauen sehr genau hin, was interessiert die Kinder, welche Themen sind beim Spielen zu beobachten. Dort können die Pädagogen dann ansetzen. Kinder werden so motiviert, viele Prozesse selbst mitzugestalten. Kinder lernen, sie können selbst etwas herausfinden, mitbestimmen, mitwirken und an ihrer Welt etwas verändern.
Das Netzwerk der Patenkindergärten der Deutschen Wildtier Stiftung hat sich ausführlich mit dem Übergang aus dem Waldkindergarten in die Grundschule beschäftigt. Können Sie kurz skizzieren, was die Ergebnisse waren.
Wir haben uns intensiv ausgetauscht zu unserem Bildungsverständnis und wie man Eltern Sicherheit und Vertrauen geben kann, einerseits in die Kinder und andererseits in diese Pädagogik. Wie können wir zeigen, dass Waldkindergartenkinder gestärkt ins Leben oder auch nur zur Schule gehen. Da haben wir mit dem gemeinsam entwickelten Heft „Stark für den Übergang“ wirklich eine gute Grundlage geschaffen. Wir stellen darin auch Studien vor, die bestätigen, dass Kinder aus einem Waldkindergarten in vielen Bereichen besser abschneiden als Kinder aus dem Hauskindergarten.
Wie können sich Naturschutz und Naturpädagogik gegenseitig bereichern?
Das oberste Ziel ist, dass Kinder, aber das gilt im Übrigen nicht weniger für Erwachsene, wieder eine emotionale Beziehung zur Natur aufbauen, damit sie diese wirklich wertschätzen können. Nur wenn das der Fall ist, werden sie sich später einsetzen, die Natur und die Umwelt auch zu schützen. Gleichzeitig ist ihre Beziehung zur Natur keine romantische, sondern eine praktische, aus eigener Erfahrung, sie ist also auch viel realistischer.
Was sind die größten Hindernisse bei der Gründung neuer Wald- oder Naturkindergärten?
Zunächst muss man natürlich eine geeignete Naturfläche finden. Dafür gibt es zahlreiche Kriterien, zum Beispiel darf keine größere Gefahrenstelle in der Nähe sein. Dann muss man Menschen für das Konzept begeistern. Einerseits die Eltern, andererseits aber auch die Gemeinde, die zuständigen Behörden, aber auch Förster, Jäger, alle, die irgendwie für dieses Gebiet mit zuständig sind. Es ist zentral, frühzeitig gute Kooperationen einzugehen und sich auch auf den ein oder andren Kompromiss zu einigen. Wenn zum Beispiel ein Wasserschutzgebiet angrenzt und sich die Frage stellt, wie der Toilettengang in dem Gebiet stattfinden kann, müssen alle Beteiligten das im Vorfeld gut geplant und durchdacht haben.
Über Anke Wolfram
Die Naturraumpädagogin Anke Wolfram leitet seit über elf Jahren den Waldkindergarten „Waldkinder-Regensburg“. Das ist einer der Patenkindergärten der Deutschen Wildtier Stiftung. Im März 2018 ist ihr Buch „Naturraumpädagogik in Theorie und Praxis“ im Herder Verlag erschienen.
Wir sehen an dem Netzwerk der Patenkindergärten, dass diese sich zum Teil stark unterscheiden, in ihren Konzepten, aber auch in ihrer Beschaffenheit. Manche haben Bauwagen, andere feste Häuser. Gibt es für Sie einen idealen Wald- oder Naturkindergarten?
Ich persönlich denke: weniger ist mehr. Viele meinen, dass jedes Kind einen festen Sitzplatz und eine Garderobe in einer Hütte oder einem Bauwagen braucht. Das braucht es nicht. Man braucht einfach einen kleinen Lagerraum, der beheizbar ist, und wo man sich vorübergehend mal geschützt aufwärmen und sich umziehen kann. Es gibt viele Kinder, die bei größter Kälte und Regen den ganzen Vormittag nicht rein wollen - und das kann man gut händeln.
Interview: Ivo Bozic