Die Wanderungen der Großen Mausohren

Von den Wochenstuben in die Balz- und Winterquartiere und zurück – ein Bericht von Forschungspreisträger Dr. Simon Ripperger

Große Mausohren (Myotis myotis) mit Näherungssensoren Foto: Dr. Simon Ripperger Große Mausohren (Myotis myotis) mit Näherungssensoren Foto: Dr. Simon Ripperger
Der Biologe Dr. Simon Ripperger ist der aktuelle Forschungspreisträger der Deutschen Wildtier Stiftung. Als Teil einer interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe hat er die Entwicklung eines vollautomatisierten Tracking-Sensornetzes vorangetrieben, das es ihm erlaubt, das Sozialverhalten in Fledermauskolonien minutiös zu dokumentieren. Damit versucht er, eine bislang ungeklärte Frage zu beantworten: Wie lernt eine neue Fledermaus-Generation, wo ergiebige Jagdgründe und die über viele Generationen genutzten Quartiere des Wochenstubenverbandes zu finden sind? Hier ist sein Bericht über die Arbeit zum Verständnis der Kommunikation der Großen Mausohren:

Es ist ein kühler Vormittag Ende Juli, als sich in einer Kleingartensiedlung bei Eberswalde eine Gruppe Männer und Frauen trifft, die mit einer Menge besonderer Hilfsmittel ausgestattet ist: Stirnlampen, Baumwollsäckchen, Waage und Fledermausringe werden vorbereitet – das kühle Wetter bietet ideale Bedingungen für ihr Vorhaben: die jährliche Kontrolle der Wochenstubenquartiere der Großen Mausohren. Seit den 1970er-Jahren treffen sich hier ehrenamtlich Aktive. Seit mehreren Jahrzehnten sind es die Mitglieder des "Berliner Artenschutz Team – BAT e.V." und "Mausohr e.V." unter der Leitung von Jörg Harder und Lutz Ittermann. Doch eines ist im Sommer 2022 anders: Diesmal hat sich Dr. Simon Ripperger der Gruppe angeschlossen sowie eine Kollegin vom Berliner Naturkundemuseum und eine Kollegin von der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Gemeinsam mit den ehrenamtlich Aktiven wollen sie das Sozialverhalten der Großen Mausohren erforschen.

Wochenstubentiere nennt man die Weibchen und ihre Jungen, die man im Sommer in Gruppen antrifft. Die erfahrenen Artenschützer sammeln 20 dieser Tiere von den Holzbalken eines Dachstuhls ab und packen sie in weiche Säckchen, bevor sie sie im Freien in Augenschein nehmen. Viele der ausgewachsenen Weibchen tragen bereits eine silbrige Armklammer mit einer jeweils einzigartigen Ziffernfolge zur individuellen Erkennung. Diese Tiere hatte das Team bereits in den Vorjahren, teilweise vor fünf oder mehr Jahren beringt. Denn die Weibchen des Großen Mausohrs kehren in der Regel Jahr für Jahr an ihre Geburtsstätte zurück, um hier ihrerseits ihre Jungen aufzuziehen.

Nun werden die Tiere gewogen, die Jungtiere und unberingte Mütter erhalten eine Armklammer. Einer Handvoll Fledermäusen wird außerdem ein Hightech-Rucksack ins Fell eingeklebt. Diese sogenannten Näherungssensoren, die Simon Ripperger als Teil einer Forschungsgruppe mitentwickelt hat, dokumentieren im Sekundentakt, wer mit wem ‚abhängt‘ und ob die Tiere nachts außerhalb des Quartiers zusammen unterwegs sind. Das funktioniert ganz ähnlich wie bei der Corona-App: Kommen sich zwei Tiere näher als zehn Meter, kommunizieren die Näherungssensoren miteinander und speichern, wie lange die Tiere zusammen waren und wie nah sie sich dabei kamen.

Ziel ist es, herauszufinden, wie die Jungtiere den Weg zu den Balz- und Winterquartieren finden, wo Weibchen auf Männchen treffen, und ob sie dabei auf die Hilfe der älteren und erfahreneren Wochenstubentiere angewiesen sind. Es erscheint unvorstellbar, dass die Jungtiere bei der Suche nach den kilometerweit entfernten Quartieren auf sich selbst gestellt sind und diese zufällig finden. Aber die Muttertiere verlassen die Wochenstubenverbände im Sommer schon deutlich vor den Jungtieren – diese ziehen also nicht einfach gemeinsam mit ihren Müttern in die Balz- und Winterquartiere um. Eine Erklärung dafür, dass die Jungtiere die Quartiere dennoch so sicher finden, wäre, dass sie bereits gegen Ende der Wochenstubenzeit Anfang August lernen, wo sich die Artgenossen im Spätsommer wieder zusammenfinden. Die Hightech-Rucksäcke sollen Aufschluss darüber geben, ob dies des Rätsels Lösung ist. Dazu haben Ripperger und seine Kollegen an den Balz- und Winter-Aufenthaltsorten der Fledermäuse bereits Empfänger installiert, die besenderte Jungtiere über die nächsten zehn Tage automatisch registrieren. Näherungssensoren zeichnen gleichzeitig auf, mit wem sie im Flug unterwegs waren. Solche gemeinsamen Überflüge zwischen Wochenstuben- und anderen Quartieren würden verraten, wer den Jungen den Weg weist.

In Verdacht stehen hier in erster Linie die eigenen Mütter, denen die Jungtiere bei nächtlichen Erkundungsflügen einfach hinterherfliegen könnten. Möglich wäre auch, dass die Mütter mit den Jungtieren interagieren, wenn die Zeit reif ist. Sie könnten den Nachwuchs dann physisch oder über Rufe zum Folgen auffordern. Um das herauszufinden, ist Dr. Ahana Fernandez mit an Bord. Sie ist Verhaltensbiologin und Expertin für Mutter-Kind-Interaktionen. Zusammen mit Eva Mardus, Biologin an der Ludwig-Maximilian-Universität München, zeichnet sie das Sozialverhalten per Video und die Sozialrufe in der Wochenstube mit einem Ultraschallrecorder auf, um später Kommunikation und Verhalten beim Ausflug zu analysieren. Dies ist ein erster Schritt, um das laute und scheinbar chaotische Gezeter im Quartier zu entschlüsseln und möglicherweise Verhaltensweisen zu identifizieren, die bei der Weitergabe von Wissen zum Einsatz kommen.

Fünf Monate später, zwischen Weihnachten und Silvester, klettert das eingespielte Team mehrere Tage lang durch alte Bunkeranlagen, verfallene Brauereien und Eiskeller in Brandenburg. Auch dieses Jahr haben die im vergangenen Mai geborenen Mausohren den Weg in die Winterquartiere gefunden. Man erkennt sie leicht an ihrem dunklen Fleck auf der Unterlippe. Armklammern blitzen in Hohlräumen auf, manche sitzen dort in Gesellschaft anderer beringter Tiere, andere hängen einzeln von der Decke. Sorgfältig lesen die Fledermausschützer die Armklammen ab, um nachzuvollziehen, aus welcher Wochenstube die überwinternden Tiere stammen. Erfreulich ist bereits, dass es wieder deutlich mehr Tiere geworden sind als im Vorjahr.

Aktuell werten die Wissenschaftler die erhobenen Daten aus. Genetische Analysen am Museum für Naturkunde in Berlin sollen zeigen, wie nah die Tiere, die sich sowohl in Wochenstuben als auch im Winterquartier nahe sind, miteinander verwandt sind, und dabei auch Mutter-Kind Paare identifizieren. Außerdem werden die Daten der Näherungssensoren und der abgelesenen Armklammern für soziale Netzwerkanalysen vorbereitet, um nachzuvollziehen, wie Informationen zwischen den Tieren weitergegeben werden. Mit diesen ersten Einblicken geht es dann Ende Juli zurück nach Eberswalde, wenn die Mausohrweibchen in ihre Wochenstuben zurückgekehrt sind, erneut die jährlichen Kontrollen anstehen – und eine neue Feldsaison für das Forschungsteam beginnt.

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Kommunikation ist alles – auch beim Großen Mausohr

Der Biologe und Fledermausspezialist Dr. Simon Ripperger (39) ist der zehnte Forschungspreisträger der Deutschen Wildtier Stiftung. Mit seinem Vorhaben zur Frage: „Die Wochenstuben des Großen Mausohrs (Myotis myotis) – wichtige Zentren des sozialen Lernens?“ hat der Preisträger die unabhängige Jury aus renommierten Wissenschaftlern überzeugt.

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