Hin zur Natur

Dr. Andreas Weber

Kind spielt mit Hund
Gespräch mit dem Biologen und Philosophen Dr. Andreas Weber über wildes Denken, kleine Forscher, Matsch und Natur-Lektionen ohne erhobenen Zeigefinger.

Herr Dr. Weber, Ihre These lautet: Kinder brauchen Natur, denn Natur macht gesund. Was genau macht denn gesund?

Vordergründig natürlich Bewegung und Spiel im Freien. Entscheidender aber ist, dass die Natur ein Spiegel ist, in dem Kinder sich selbst erkennen. Wenn sie im Matsch wühlen, Frösche fangen oder tote Regenwürmer untersuchen, sind sie hautnah mit der Existenz konfrontiert, mit Bewegung, Wachstum, Entfaltung und Sterben. Solche mit Empfindungen verbundenen Naturerfahrungen helfen Kindern, ihre Identität zu entwickeln.

Ein Kind, das nicht im Matsch wühlt und keine Regenwürmer seziert, kann nicht zu einem kreativen, empathischen, gesunden Menschen gedeihen?

So weit will ich nicht gehen. Menschen sind sehr flexibel, sie verkümmern nicht so schnell. Es gibt viele Ressourcen schöpferischer Identitätsstiftung. Aber die Natur ist ein Raum mit lebendigen Prozessen. Sie bildet den Zyklus des Lebens ab, und sie verteilt ihre Lektionen nicht mit erhobenem Zeigefinger.

Andreas Weber

„Zurück zur Natur“ wollte der Philosoph Jean-Jacques Rousseau schon vor rund 250 Jahren, und hatte dabei auch die natürliche Entwicklung des Kindes im Visier. Ein romantischer Wunsch?

Rousseau hat im 18. Jahrhundert der automatisierten Gesellschaft die angeblich so heile Welt der Natur gegenübergestellt. Er postulierte die Rückkehr zu einer Harmonie, die es nie gab. Zurück funktioniert nicht. Ich sage lieber „Hin zur Natur“. Dort erfährt das Kind keine pure Harmonie, sondern Wirklichkeit, auch unharmonische Wirklichkeit, wenn es beispielsweise einen toten Vogel findet oder ausprobiert, was passiert, wenn man eine Ameise zerdrückt. Das Experimentieren in der Natur befriedigt emotionale und kognitive Bedürfnisse, wie Studien aus der Gehirnforschung eindeutig belegen. Kinder fühlen sich in Gegenwart anderer Lebewesen lebendig. Wir dürfen nicht vergessen: Erfahrung und Empfindung sind biologische Realität, und Natur ist die Währung für unser Selbstverständnis. Das haben wir nicht zufällig in der Romantik oder noch früher erfunden, das ist ein Teil von uns.

Natur ist ein Spiegel, in dem Kinder sich selbst erkennen.

Sie sprechen vom angeborenen Natur-Suchinstinkt bei Kindern. Wie funktioniert der?

Man braucht einem drei Monate alten Baby nur zwei Kaninchen zu zeigen - ein echtes und ein mechanisches - das Kind guckt sofort das lebendige Tier an, nicht den Automaten. Wenn ein Kleinkind einen Hund sieht, will es sich sofort mit ihm beschäftigen. Und dieser Radius der Entdeckungen - und die Freude daran - erweitert sich ständig.

Heißt das, Kinder streben instinktiv nach Naturbildung?

Sie wissen, was sie brauchen, eignen sich die Welt spielerisch an und tragen ihr eigenes Naturbildungsprogramm in sich. Wenn man sie nicht behindert und ihnen erlaubt, Risiken einzugehen. Auf einen Baum zu klettern bedeutet ja auch, dass man herunterfallen kann.

Über Andreas Weber

Andreas Weber studierte Biologie und Philosophie in Berlin, Hamburg und Freiburg. Er promovierte bei Hartmut Böhme (Berlin) und Francisco Varela (Paris) über "Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen". Als freier Journalist publiziert er seit 1994 vor allem für GEO, Merian, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, National Geographic, mare, Greenpeace Magazin und Oya.
Andreas Weber arbeitet heute als Schriftsteller, Journalist, Dozent und Politikberater. Er lebt mit seinen zwei Kindern in Berlin und im italienischen Varese Ligure, in der Nähe von Genua.
Weitere Informationen zu Andreas Weber auf www.autor-andreas-weber.de

Kinder sind in ihrem Naturbildungsprogramm sozusagen auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung?

Ja. Denn wer in der Natur lernt, ein produktiver Teil des Ökosystems zu sein, der kann die Welt lieben und will sie schützen.

Darum halten Sie die Entfremdung von der Natur für eine gesellschaftliche Katastrophe?

Das ist zugespitzt. Aber wer soll denn in Zukunft die Natur bewahren, wenn Kinder nicht mehr wissen und leibhaftig erfahren, dass das Netz des Lebens ein Teil von ihnen ist? Alle anderen Fähigkeiten und Fertigkeiten kann man sich in kürzester Zeit aneignen.

Der amerikanische Anthropologe Gregory Bateson vergleicht das Gewebe der Natur mit dem Beziehungsgeflecht im Gehirn ...

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... weil es in der Natur und im Gehirn eine unendliche Zahl von Verbindungen gibt, die Vielfalt bewirken. Indem Kinder die ökologische Vielfalt mit allen Sinnen erleben, vermehren sie die Verflechtungen in ihrem Gehirn – in ihrem Teil der Beziehungsökologie. Sie erfahren Natur quasi als Außenseite des eigenen Fühlens und Denkens.

Lernstress blockiert das wilde Denken.

In den letzten Jahren stehen Kinder, auch im Kontext von Naturbildung, als kleine Forscher im Fokus. Es gibt inzwischen Kitas, die sich „Kleine Wissenschaftler“ oder „Haus der kleinen Forscher“ nennen. Eine positive Entwicklung?

Kinder sind neugierig, sie staunen und haben Forschergeist. Dabei ist das Forschen aber zweitrangig. Die Seinserfahrung ist viel wichtiger. Außerdem erlahmt der Forschergeist sofort, wenn Kinder spüren, dass die Erwachsenen Output erwarten. Lernstress blockiert das wilde Denken, und die heilsame Wirkung der Wildnis endet abrupt, wenn sie zur Lektion wird. Ein Hund im Klassenzimmer senkt bei Grundschülern erwiesenermaßen den Blutdruck. Allerdings nur, wenn er kein Prüfungsobjekt ist.

Nun kann man ja nicht behaupten, dass Natur in der Schule keine Rolle spielt. Auch Naturschutz steht auf dem Lehrplan ...

Stimmt. Schon Grundschüler können Zahlen zu Regenwaldverlusten oder Ökokatastrophen abspulen. Das sind allerdings abstrakte Zahlen. Doch die Natur ist lebendig. Nur wenige Schulen haben diesen Befund zu ihrem Leitbild gemacht, füllen nicht bloß ein paar Stunden in Randlage mit Naturthemen. Da fällt mir als positives Beispiel die „Freie Naturschule StadtGut Blankenfelde“ am Berliner Stadtrand ein. Dort wird Lebenserfahrungskunde betrieben. Die Kinder lernen Vogelstimmen zu identifizieren und Tierspuren zu entziffern.

Sie sind Biologe und Philosoph, haben über das Thema „Natur als Bedeutung“ promoviert. Welche persönliche Erfahrung ließ Sie zum Naturphilosophen werden?

Ich bin als Kind viel in der Natur herumgestrolcht und habe schon in sehr jungen Jahren einen Riss in meinem Weltbild empfunden. Die rein technische Sicht auf das Leben kam mir immer unvollständig vor. Dazu war der Bio-Unterricht stinklangweilig, meine Lehrerin konnte eine Saatkrähe nicht von einem Raben unterscheiden. Ich war elf oder zwölf, als ich auf dem Nachhauseweg an einem halb zugefrorenen Tümpel ein Fabelwesen mit Zackenkamm entdeckte... plötzlich überkam mich das Gefühl, dass dieser Teichmolch etwas mit mir zu tun hatte.

Haben Sie Ihren Kindern Naturfreiräume eröffnet?

Wir haben immer im Grünen gewohnt – zuerst in Buxtehude bei Hamburg, später in Berlin. Ich habe meine Kinder immer in die Natur geschleppt. Dort konnten sie machen, was sie wollten, so lange sie wollten. Und ich habe geduldig gewartet.

Was raten Sie Eltern, die mit Ihren Kindern „Hin zur Natur“ wollen?

Ich bin kein Fundamentalist, und es gibt auch keinen perfekten Weg, auf dem man mit dem natürlichen Programm gänzlich ins Reine kommt. Aber Umdenken ist ein erster Schritt. Wir müssen weg von permanentem Leistungs- und Effizienzdenken. Wir dürfen Kinder nicht verplanen oder als Notenfunktionsautomaten betrachten. Wir müssen ihnen Freiräume gestatten, die sie nach ihren Bedürfnissen gestalten können, so oft wie möglich, ohne ständige Kontrolle. Das befreit übrigens auch die Eltern.

Und wie viel Natur muss sein für die von Ihnen geforderte Entfaltung?

Für ein glückliches Verwildern ist kein perfektes Biotop erforderlich. Natur funktioniert auch im Allerkleinsten. Manchmal reicht schon ein Stück Brachland um die Ecke für sinnliche Erfahrungen und das Gefühl von Freiheit. Zu dieser Freiheit gehört aber auch ein bisschen Risiko, ein bisschen echte Gefahr. Und noch eins: Wir sollten nicht dauernd auf mehr Nachhaltigkeit pochen, sondern auf mehr Lebendigkeit.

Das Gespräch führte Susanne Kunckel.