Lernwerkstatt Natur
Prof. Gerd Schäfer
Herr Professor Schäfer, Sie behaupten, dass frühkindliche Bildung in erster Linie Selbstbildung ist?
Das wird oft missverstanden, als würden Kinder sich von selbst bilden. Das ist natürlich nicht gemeint. Denn jeder Mensch braucht für seine Bildung die Auseinandersetzung mit etwas, wie schon Wilhelm von Humboldt formulierte.
Der sagte: „So viel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln, ist im höheren Sinn des Wortes Leben“.
Dieses Bildungsideal beinhaltet, sich intensiv mit der Welt auseinanderzusetzen, um sich dabei zur Persönlichkeit zu entwickeln. Das fängt gleich nach der Geburt an. Kinder müssen aus dem Erfahrenen immer selbst etwas machen. Es gibt keine Bildung ohne Selbstanteil.
Um ihre Erfahrungen zu verarbeiten, müssen Kinder mit all ihren körperlichen, sinnlichen und geistigen Möglichkeiten nachvollziehen und innerlich begreifen.
Wenn in der Gesellschaft über Bildung gesprochen wird, dann meist so, als könnte Kindern alles vermittelt werden, als wäre Bildung nur eine Frage des Transports …
Das ist ja der Irrtum. Kinder müssen selbst aktiv sein. Nachmachen oder nach-denken, was die Mutter, ein Erzieher oder der Lehrer vormacht oder vor-denkt, reicht nicht. Um ihre Erfahrungen zu verarbeiten, müssen Kinder mit all ihren körperlichen, sinnlichen und geistigen Möglichkeiten nachvollziehen und innerlich begreifen – das ist ein großer Unterschied, das kann man nicht verordnen.
Natur liefert das differenzierteste Vorbild für die Sinnesentwicklung.
Dann ist die Aufgabe der Erwachsenen nicht in erster Linie, Kindern etwas beizubringen, sondern ihnen die Möglichkeit zu bieten, im Alltag Selbsterfahrungen zu machen?
Genau. Es geht darum, Kindern die Welt, die Umwelt und ihre soziale Situation so zu strukturieren, dass sie in der Lage sind, mit ihren Mitteln nachzudenken, weiterzudenken, Fragen zu stellen, zu verstehen und sich dabei weiterzuentwickeln.
Ab welchem Alter können denn Kinder Bedeutung erfassen?
Von Anfang an. Ein Kind an der Mutterbrust erfasst, was es bedeutet, gestillt zu werden. Kleine Kinder erfassen Bedeutung emotional. Emotionales Erleben ist unser erster Bedeutungsträger.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Naturbildung. Was können Kinder von der Natur lernen?
Alles. Denn Natur liefert das differenzierteste Vorbild für die Sinnesentwicklung. Kinder bilden ihre Sensorik früh aus. Sie können nur begreifen, was sie wahrnehmen. Und Wahrnehmen muss man lernen, wie wir aus der modernen Hirnforschung wissen – von der undifferenzierten bis zur differenzierten Wahrnehmung, beispielsweise der Farb- oder Strukturwahrnehmung. Kinder erwerben die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung in den ersten Lebensjahren in dem Maße, in dem die Umwelt es ermöglicht. Sie sind neugierig, entwickeln in der Interaktion mit ihrer Umgebung Aufmerksamkeit. Die Natur bietet vielseitige Möglichkeiten solcher Interaktionen.
Über Gerd Schäfer
Gerd E. Schäfer ist Professor der Pädagogik der frühen Kindheit i. R. an der Universität Köln und seit 2011 Professor im Bereich „Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit“ an der Hochschule für Künste in Bremen. Sein Arbeitsbereich ist die frühkindliche Bildungsforschung, insbesondere in den Bereichen Naturwissen und Ästhetik (Gestaltung, Musik). Er initiierte und begleitete wissenschaftlich mehre Projekte zur Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten (NRW, Thüringen und – mit dem Sozial Alternativen Wohlfahrtsverband SOAL – in Hamburg). Er gründete den Verein WeltWerkstatt für Fortbildungen von Pädagogen/innen. In Mülheim/ Ruhr entstand unter seiner wissenschaftlichen Leitung – von 2007 bis 2011 – die Lernwerkstatt Natur, als Kooperationsprojekt der Universität Köln und der Stadt. Aktuell starten an der Hochschule für Künste in Bremen zwei Projekte zur Qualifikation von Fachpersonen im Bereich der musikalischen Bildung in der Frühen Kindheit.
Professor Schäfer hat drei erwachsene Kinder, ein Enkelkind und lebt in Würzburg.
Wie viel Natur braucht denn Naturerfahrung?
So viel, wie möglich. Um Naturinteresse zu entwickeln, müssen Kinder von Anfang an breite Erfahrungen mit der Natur machen. Und Natur beginnt dort, wo wir sie treffen. Wer durch das Fenster auf einen Baum guckt und Blaumeisen beobachtet, die dort nach Nahrung suchen, macht eine Naturerfahrung. Die Unterscheidung von Vögeln nach Gestalt und Farben setzt bereits differenziertes Naturwissen voraus. Im kleinen Garten oder im Außengelände der Kita können Kinder solche Naturerfahrungen machen, die übrigens durch Natursendungen im Fernsehen nicht zu ersetzen sind. Wenn die Kinder unserer Naturlernwerkstatt im Herbst in den Wald liefen, haben sie sich ins Laub geworfen – das ist eine sinnliche Erfahrung, die ein Bild mit buntem Laub niemals ersetzen kann.
Wie funktionierte Naturbildung in Ihrer Lernwerkstatt in Mühlheim an der Ruhr, die Sie fünf Jahre lang mit der Universität Köln betrieben haben?
Zunächst einmal: Das war keine Belehrungswerkstatt. Wir haben den Kindern auf einem Waldgelände mit Glashaus die Möglichkeit eröffnet, so viele Erfahrungen wie möglich in und mit der Natur zu machen. Sie konnten dort explorieren – so nenne ich es, wenn Kinder staunen und neugierig ausprobieren, was sie mit den Dingen, die sie in der Natur finden, machen können. Die Erzieher haben beobachtet, zugehört, Fragen und Anregungen der Kinder gemeinsam mit ihnen weiterentwickelt. Dazu muss man sie nicht belehren, sondern mit ihnen zusammen denken.
Sie halten nicht viel von Kitas, die sich „Kleine Wissenschaftler“ oder „Haus der kleinen Forscher“ nennen?
Ich halte es für einen Irrweg, kleinen Kindern Labore einzurichten. Denn der Begriff Forscher ist genau festgelegt; er beinhaltet systematisches Vorgehen. Genau das tun Kinder nicht. Sie sind neugierig, probieren alles Mögliche aus mit Materialien, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie sammeln beispielsweise Äste und gucken, was man damit machen kann. Manche bauen eine Brücke, andere ordnen die Äste nach ihrer Größe, wieder andere sehen auf die Oberfläche und entdecken die Ähnlichkeit mit Knochen. In unserer Naturwerkstatt fielen den Kindern beim Hantieren mit den Ästen Dinosauriergeschichten ein – gleich zwei Bereiche der Naturbildung und zwei Möglichkeiten, weiter zu fragen, allerdings nicht im wissenschaftlichen Sinn. Zudem ist eine Labor-Erfahrung keine unmittelbare Naturerfahrung. Warum sollen Kinder denn im „Labor“ aus Erde und Wasser ein Gemenge herstellen, wenn sie in der Natur eine viel intensivere Gemenge-Erfahrung machen können – indem sie sich Matsch ins Gesicht schmieren?
Je mehr Bilder wir im Kopf haben, desto eher können wir unterscheiden und Fragen stellen.
Klingt nach Pestalozzi. Der Begründer der modernen Pädagogik hat vom „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ gesprochen ...
Ich teile seine Überzeugung, argumentiere aber anders. Denn mit dem Angebot von „Kopf, Herz und Hand“ kann ich heute niemanden mehr überzeugen, der für sein Kind eine Kita sucht und fragt: Was macht ihr im Bereich Natur? Um Eltern zu gewinnen, würde ich von der Bedeutung der Naturerfahrungen sprechen, von der Differenzierung der Sinne, der Wichtigkeit, so viele Erfahrungen wie möglich zu machen, um die Denkmöglichkeiten zu erweitern. Denn je mehr Bilder wir im Kopf haben, desto eher können wir unterscheiden und Fragen stellen.
Was halten Sie denn von Wald-Kindergärten, die ja auch Natur im Programm haben?
Der Ansatz ist gut, obwohl ich ein Problem mit spezialisierten Kindergärten habe. Es reicht auch nicht, dass die Kinder im Wald spielen, man muss ihnen Gelegenheit geben, ihre Fragen zu stellen und diesen Fragen nachzugehen. Das wird in Waldkindergärten unterschiedlich gehandhabt.
Fortbildungsinstitut Weltwerkstatt e.V.
Weltwerkstatt e.V. bietet Fortbildungen im Bereich der Frühpädagogik. Das Institut begreift sich selbst als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis und möchte dazu beitragen, Kindern ein Höchstmaß an Eigenbeteiligung am Prozess ihrer Bildung zu ermöglichen. Das Ziel der Institution ist es, eine frühpädagogische Praxis zu etablieren, die Kindern ermöglicht, schöpferisch und problemlösend zu lernen und ihre eigenen Fragen und Interessen zum Ausgangspunkt ihres Lernens zu machen.
Weiterführende Informationen finden Sie hier:
www.weltwerkstatt.de
Sind frühkindliche Bildungsprozesse planbar?
Das bestreite ich. Man kann sie vielleicht lenken, aber nicht planen, das sagt uns die Kognitionswissenschaft.
Was bedeutet das für die Arbeit der Erzieher in Kitas?
Das heißt, Pädagogik als Dialog zu betrachten, als einen Austausch mit den Kindern. Um noch einmal auf das Holzexperiment in unserer Natur-Lernwerkstatt zurückzukommen: Die Kinder, die die Äste mit Dinosaurierkochen in Verbindung brachten, gingen ungefähr eine Woche lang ihren eigenen Fragen nach, probierten herum, zweifelten, sammelten Argumente dafür und dagegen. Und die Erzieher haben sie dabei begleitet. Kitas, die Kindern das Lernen in dieser Weise ermöglichen, sind noch selten.
Welche Bedeutung hat Natur für Sie persönlich?
Ich hatte von Kindheit an eine sehr intensive Beziehung zur Natur. Ich bin in Bamberg aufgewachsen, war nie im Kindergarten und hatte bis zum Abitur Umwelten, die ich unmittelbar betreten konnte. Dazu hatte ich als Kind in der Nachkriegszeit viel Zeit, unbeobachtet und unreglementiert meiner Neugier zu folgen. Gern wäre ich Biologe geworden, aber der Unterricht am Gymnasium mit seiner starren Wissensvermittlung in den naturwissenschaftlichen Fächern hat mir die Begeisterung systematisch ausgetrieben.
Förderung, so früh wie möglich, steht heute hoch im Kurs. Die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig rückt diverse Förderungsprogramme ins Zentrum ihrer Kita-Politik. Was empfehlen Sie ihr?
Ich würde ihr dringend raten, den Kompetenzzirkus in den Kitas zu beenden und Abstand zu nehmen von Förderprogrammen, ob im Bereich Sprache – wo die Unwirksamkeit bereits erwiesen ist – oder im Bereich des Naturwissens. Viel wichtiger ist es, Geld für gute Rahmenbedingungen auszugeben, damit beispielsweise in den Kitas weniger Kinder mit einer Erzieherin zusammenarbeiten und diese ihren Bildungsaufgaben auch nachkommen kann. Außerdem würde ich Frau Schwesig empfehlen, Projekte zu unterstützen, die im Sinne der Werkstätten arbeiten. Wir brauchen ein Netz von modellartigen Lernwerkstätten in Deutschland – in erster Linie für Erzieher/innen, die dort den dialogischen Umgang mit Kindern lernen. Denn es gibt noch viel zu wenig gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen, die Kindern bei ihrer Bildung ein Höchstmaß an Eigenbeteiligung ermöglichen.
Das Gespräch führte Susanne Kunckel