Barbara Geiger: „Alfred Brehm ist der Shakespeare der Biologie“
Den berühmten Zoologen Alfred Brehm kennt jeder, aber wer, beziehungsweise was ist „Fräulein Brehm?“
„Alfred Brehms Tierleben“ ist ein zehnbändiges Lexikon, ein Werk der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, das mich ungemein fasziniert hat. Ich bin von Hause aus allerdings nicht Biologin, sondern Schauspielerin - also habe ich den alten Brehm auf die Bühne verfrachtet.
Wie das?
Ich hole mir dazu Experten, Wildbiologen, um auf den aktuellsten Stand der Wissenschaft zu kommen. Ich beschäftige mich ein Jahr lang intensiv mit einer Tierart, gehe mit den Biologen auch in die Feldforschung. Ich sauge mich regelrecht voll wie ein Schwamm mit Wissen über zum Beispiel den Regenwurm und dann setze ich mich hin und schreibe auf dieser Grundlage ein Theaterstück. Dabei berücksichtige ich den Lebenszyklus, Fortpflanzung, Ernährung, Verbreitung, Lebensraum etc. Das alles in unterhaltender Form. Die Wissenschaftler suchen geeignete Bilder heraus und daraus wird eine Powerpoint-Präsentation gefertigt, die ist das Bühnenbild. Eine Schauspielerin studiert dann den fertigen Text ein und sie bekommt auch ein genaues Briefing zu dem Tier, damit sie die Fragen aus dem Publikum beantworten kann. Das Ganze haben wir bis jetzt für insgesamt zwölf Tiere recherchiert.
Das Fräulein Brehm sind in Wirklichkeit mehrere Fräuleins?
Wir haben derzeit zwölf Schauspielerinnen in Deutschland und je eine in Italien und Österreich.
Die beherrschen alle jeweils das gesamte Programm?
Nein. Manche spielen nur ein Stück, andere spielen zehn. Alle sind freischaffend tätig.
Aber es sind Schauspielerinnen, keine Biologinnen?
Exakt, sie müssen inhaltlich trotzdem fest im Sattel sitzen. Das Fräulein hat natürlich auch ein Kostüm an und wir ziehen in jedem Stück den Hut vor Alfred Brehm, indem wir ihn zitieren. Die äußere Beschreibung der Tiere ist ja immer noch gültig, die Tiere sehen noch so aus wie damals. Aber ich wollte den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts nicht kolportieren, sondern das Wissen des 21. Jahrhunderts in die Theaterstücke einbringen. Deswegen ist es „Fräulein Brehms Tierleben“.
Wie kamen Sie auf diese Idee?
Angefangen hat alles 2007/2008 mit dem Wolf. Ich kam eher zufällig dazu. Ich wollte eigentlich etwas zu Hunderassen machen, weil so viele Menschen Hunde haben. Also traf ich mich mit dem Kurator im Senckenberg Museum in Frankfurt. Er erzählte mir, dass es in der Lausitz wieder Wölfe gebe. Damals war das noch kein Thema in der Öffentlichkeit. Ich war froh über diese Nachricht, denn ich bin als Kind auch schon mit Wölfen in Berührung gekommen. Der Wolfsexperte Erik Zimen hat in meiner Heimat im Nationalpark Bayerischer Wald geforscht und ging bei uns Zuhause ein und aus. Und dann stand ich im Senckenberg Museum und dachte, hier schließt sich ein Kreis. Die Wissenschaftler waren auch sehr erfreut, dass ich zwischen Forschung und Öffentlichkeit vermitteln wollte, gerade beim heiklen Thema Wolf. Das können Wissenschaftler ja nicht in der Weise. Die können nicht 400 Vorstellungen im Jahr absolvieren, so wie wir das tun.
Das ist ja auch unglaublich viel.
Wir können das, weil wir so viele Fräuleins sind. Wir haben mittlerweile auch die Grenzen des deutschsprachigen Raums gesprengt. Es gibt englische, französische, italienische Übersetzungen, sogar ins Japanische und Hindi.
Dafür muss man aber jedes Mal eine Schauspielerin engagieren.
Ja genau, das ist viel Arbeit.
Welche Tiere haben Sie außerdem im Programm?
Nachdem der Wolf so gut geklappt hat, habe ich mir den Luchs vorgeknöpft, dann den Bären und die Wildkatze. Danach hatte ich von Säugetieren erst mal genug, es folgten Regenwurm und Wildbiene. Auf den Wunsch von Meeresbiologen hin habe ich dann ein Stück über den Schweinswal gemacht und über den Hering. Von den Vögeln haben wir die Rauchschwalbe und die Nachtigall. Letzteres war mir wichtig, weil das eine Brücke schlug nach Afrika. Die Vögel sind nur ein halbes Jahr bei uns und dann sind sie woanders und dieses „Woanders“ kennen wir nicht. Ich bin deshalb auch nach Afrika gereist. Das war sehr bereichernd. Zuletzt bin ich ein Jahr lang in Sachen Kuh unterwegs gewesen und als nächstes mache ich den Auerhahn.
Sie sagen, Alfred Brehm hat Sie als Schauspielerin fasziniert. Inwiefern?
Alfred Brehm ist der William Shakespeare der Biologie. Er hat leider einen schlechten Ruf. Doch dass er kaum noch gelesen wird, hat er nicht verdient. Als Schauspielerin und als jemand, der sich mit Sprache auseinandersetzt, finde ich ihn unglaublich poetisch. Er hat mich berührt. Ich habe zufällig ein Buch von meinem Vater in die Hand bekommen, allerdings war das nicht der original Brehm, das war schon sehr verwässert von Autoren, die es aktualisiert haben. Drum habe ich mir in der Bibliothek aus dem Archiv den echten alten Brehm raussuchen lassen. Ich war überwältigt von der Sprache und auch von den Bildern. Es gab ja keine Fotoapparate seinerzeit, also mussten sie Künstler engagieren. Das ist auch grafisch ein unglaubliches Werk.
Kinder merken, wenn man sie ernst nimmt, das finden die klasse.
Ihr Programm ist recht anspruchsvoll, sehr faktenreich. Dennoch kleben auch die Kinder dem Fräulein Brehm an den Lippen, sind sehr konzentriert und stellen am Schluss viele Fragen. Ist das Erfolgsrezept, einerseits das Thema und andererseits auch die Kinder völlig ernst zu nehmen?
Ja, auf alle Fälle. Kinder merken, wenn man sie ernst nimmt, das finden die klasse. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich mal Kindervorstellungen gebe. Aber nun denke ich, das ist das Spannendste, was man machen kann. Ich wollte mit Absicht den Stoff nicht verkindlichen oder verwässern. Das haben mir Lehrer anfangs, gerade beim Thema Wolf, auch massiv vorgeworfen. Das sei überhaupt nicht für Kinder aufbereitet und es sei auch viel zu schwierig. Aber dann hat sich gezeigt, die Kinder lieben es. Die sitzen da und sind ganz bei der Sache und stellen am Ende Fragen, die nicht dümmer sind, als wenn Erwachsene fragen. Wir sind ja keine Pädagogen - aber eben auch keine Wissenschaftler. Als Schauspieler haben wir noch mal einen ganz anderen, eigenen Zugang zu den Menschen. Uns gelingt es zuweilen einfacher, sie zu interessieren, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
Welcher Art sind die Fragen der Kinder?
Natürlich suchen Kinder immer Anknüpfungspunkte zu ihrem eigenen Leben. Im Wolf-Stück kommt zum Beispiel ein Herdenschutzhund vor, der Anton heißt. Wenn ein Kind in der Klasse Anton heißt, dann ist das natürlich sofort ein Thema. Wir stellen aber auch selbst Brücken her. Wenn wir sagen, dass alle Wölfe im Mai Geburtstag haben, dann fragen wir: „Und hat denn auch jemand von euch im Mai Geburtstag?“ So etwas ist ganz wichtig bei Kindern. Aber es kommen natürlich auch klassische Sachfragen.
Sie treten aber nicht nur vor Kindern auf.
Richtig, und interessanterweise fesselt das Stück Erwachsene und sogar Experten genauso wie die jungen Seelen. Es ist immer dasselbe Stück. Manchmal spielen wir drei Vorstellungen am Tag, zweimal in eine Schule, einmal abends für Erwachsene. Dabei treten wir auch auf Konferenzen auf, bei Umweltfestivals, bei Landschaftsvereinen oder Wirtschaftsverbänden. Ich habe schon bei der Uno in New York gespielt, im Europa-Parlament und bei der Umweltministerkonferenz.
Ist das, was Sie machen, nicht ganz klassischer Frontalunterricht? Gilt das nicht als veraltet?
Wenn man ins Theater geht, erwartet man auch nicht vom Publikum, dass es dort interagiert, oder dass die Zuschauer mitschreiben. Sie hören und schauen den Schauspielern zu. Bei Fräulein Brehm lassen wir, gerade bei den Kindervorstellungen, zusätzlich Interaktivität zu, indem jederzeit Fragen gestellt werden können. Also, wir gehen einen Mittelweg: Wir setzen sowohl auf Wissensvermittlung, als auch auf Interaktion. Vor allem aber haben wir als Mittel die Unterhaltung. Das ist zentral. Ohne die dramaturgische Bearbeitung wäre das nur ein wissenschaftlicher Vortrag, das wäre langweilig. Aber das 11. Gebot lautet bekanntlich: „Du sollst nicht langweilen“ und daran halten wir uns.
Das 11. Gebot lautet: 'Du sollst nicht langweilen' und daran halten wir uns.
Sie vermitteln Wissen, aber Sie wollen Kinder auch motivieren. Zu was?
Wir fragen die Kinder immer, wer von ihnen denn mal Forscher werden möchte. Einfach, um diese Frage gestellt zu haben. Wir wollen sie ermuntern, sich mit dieser Option zu befassen. Dies eröffnet ihnen auch eine Perspektive: Man muss nicht nur Zuschauer sein. Zum Beispiel beim Braunbär: Es wurde beobachtet, dass der eine Bär alles mit der rechten Tatze macht und der andere alles mit der linken. Sprich, dass Bären womöglich Linkstatzler oder Rechtstatzler sein könnten. Und dann sage ich zu den Kindern: „Hey, ich brauche eure Unterstützung, wenn ihr mal Forscher werdet, dann findet das bitte heraus!“ So sehen die Kinder unter Umständen eine Aufgabe für sich und sie begreifen vielleicht, dass Wissenschaft letztlich das Ergebnis der Arbeit neugieriger Menschen, also eventuell von ihnen selbst, ist.
Was war als Kind Ihr persönlicher Zugang zur Natur?
Ich bin im Vorort einer kleinen Stadt groß geworden. Meine Tante hatte einen Bauernhof. Da habe ich die Sommer verbracht, Heu gemäht und die Kälber gefüttert. Meine Eltern waren im Nationalpark Bayerischer Wald engagiert. Wir sind dort oft wandern gegangen, mein Vater hat die Wanderwege markiert und hergerichtet. Ich bin also sehr naturnah aufgewachsen, aber ich war nie so naturaffin, dass ich gerne Pfadfinderin oder Försterin werden wollte. Ich habe Volleyball gespielt, war Leistungsschwimmerin und war im Theater, so oft ich konnte. Das war mein Ding. Ich war also eher urban orientiert. Nach dem Abitur ging ich nach London und habe dort Schauspiel studiert, Shakespeare rauf und runter, tja, und wie gesagt, dann stieß ich unvermittelt auf Alfred Brehm.
Über Barbara Geiger
Barbara Geiger ist Schauspielerin und Regisseurin. Seit 2008 leitet sie zudem das „einzige Theater der Welt für heimische gefährdete Tierarten“, wie es in der Selbstdarstellung heißt. Es gibt feste Spielstätten in Berlin, vor allem aber tingeln die Schauspielerinnen eifrig durchs Land und sogar durch die Welt und bieten „artgerechte Unterhaltung, nicht nur für Erwachsene“. Das Naturbildungstheater finanziert sich vor allem durch Eintrittsgelder und Spenden. 2011 wurde zudem die Stiftung Fräulein Brehms Tierleben gegründet.
Und nun sind Sie offensichtlich doch ziemlich naturaffin.
Klar, weil ich bei meiner Arbeit an Fräulein Brehms Tierleben Welten für mich entdecke. Ich denke erst, wie wohl jeder: Hm, Regenwurm, das kann doch nicht besonders interessant sein. Aber je mehr man sich darauf einlässt, umso spannender wird es. Was der alles kann, was der alles tut! Wo der überall lebt und wie viele Arten es gibt! Manche Regenwürmer in Australien werden zweieinhalb Meter lang. Ich liebe es, Sachen herauszufinden. Und ich glaube, am Ende ist das auch das Entscheidende, weshalb das mit den Kindern bei unseren Vorstellungen so gut funktioniert. Die lieben das nämlich auch.
Interview: Ivo Bozic; Fotos: Karsten Bartel