Ich packe den Bollerwagen – dann ziehen wir los!
Marlies Haase
Frau Haase, warum sind Sie Naturpädagogin geworden?
Weil ich Kinder mag und immer schon Sehnsucht nach Natur hatte. Ich bin in der Stadt groß geworden und wollte ständig nach draußen. Als ich acht Jahre alt war, haben meine Eltern mich bei den Pfadfindern angemeldet. Da habe ich prägende Erfahrungen gemacht: Gemeinschaft am Lagerfeuer, laue Nächte und romantische Stimmungen, Naturgeräusche und -gerüche, Kälte und Nässe in den Zelten... ich bin eine Draußen-Frau, ein Luftmensch – das bleibt man sein Leben lang.
Ich bin eine Draußen-Frau, ein Luftmensch – das bleibt man sein Leben lang.
Sie sind gelernte Erzieherin?
Ja. Nach mehreren Praxisjahren in einem Kinderheim habe ich Sozialpädagogik studiert und anschließend fast 25 Jahre lang einen Hamburger Kindergarten geleitet. Von Anfang an gehörte die Natur dazu. Mindestens einmal in der Woche bin ich mit den Kindern in den Wald gegangen.
Heute liegt Naturpädagogik im Trend, Waldkindergärten sind gefragt. Wie war das vor 20 Jahren?
Viele Eltern hielten nicht viel davon, bei Wind und Wetter in den Wald zu gehen. Sie meinten, dort sei es kalt und nass, die Kinder könnten sich erkälten. Ich musste reichlich Überzeugungsarbeit leisten. An den Vorbehalten hat sich übrigens bis heute nicht viel geändert. Naturerfahrung soll sein, aber am besten in weichgespülter Form – bei Sonnenschein, auf trockenen Wegen. Viele Kinder lernen von ihren Eltern, dass man bei ungemütlichem Wetter besser zu Hause bleibt.
Und was passiert, wenn Sie mit solchen Kindern in den Wald gehen?
Am Anfang stolpern sie über jede Baumwurzel, weil sie ja kaum Erfahrung mit unebenem Boden haben und generell selten zu Fuß unterwegs sind. Viele Kinder werden ja zu jeder Verabredung mit dem Auto gefahren. Im Wald können sie auf holprigem Boden und durch diverse Klettermöglichkeiten ihre Grobmotorik trainieren und stürzen am Ende weniger.
Die Naturpädagogik geht so weit, den Wald als „Lehrmeister“ hinzustellen, der soziale Werte vermitteln kann ...
Der Wald ist ein Experimentierfeld, auf dem Kinder mit sich, anderen Menschen und Materialien Erfahrungen sammeln können. Werte wie Respekt vor anderen und vor Lebewesen werden am eigenen Leib erfahren. Der Wald bringt uns bei, dass wir aus uns selbst und unserer Umgebung etwas machen können und zwar nicht gegen, sondern mit der Natur.
Naturpädagogen sind keine Weltverbesserer.
Eine bessere Gesellschaft durch Naturpädagogik – klingt nach romantischer Weltverbesserung ...
Naturpädagogen sind keine Weltverbesserer ... oder vielleicht doch ein bisschen. Wir wollen Kindern zeigen, wie wunderschön Natur ist. Denn, was man kennt, liebt man und wird es später schützen.
Über Marlies Haase
Marlies Haase sammelte zunächst Erfahrungen als Erzieherin. Anschließend daran absolvierte sie ein Sozialpädagogik-Studium und leitete 25 Jahre lang einen Kindergarten in Hamburg. Im Jahr 2000 machte sie sich mit ihrer Projektwerkstatt LebensRaum in Hamburg Niendorf selbstständig. Als Naturpädagogin arbeitet sie seitdem mit privaten Gruppen, Kita– und Schulkindern. Ein weiterer Schwerpunkt der Projektwerkstatt LebensRaum ist Therapeutisches Puppenspiel. Marlies Haase ist verheiratet, lebt in Hamburg und ist Mutter eines erwachsenen Sohnes.
Wie erleben Sie die Kinder, die häufig schon im Kita-Alter mit dem Computer vertrauter sind als mit heimischen Tieren und Pflanzen?
Ich bin immer wieder überrascht, wie erschöpft manche von ihnen sind. Sie haben viel zu tun, mit diversen Hobbys, mit der Schule. Die Kinder sind erschöpft vom Leben, weil es verplant ist, weil kaum Zeit zum freien, unkontrollierten Spiel bleibt, zu Bewegung im Freien, die für Kinder den Zugang zur Welt eröffnet. Ich wohne im Grünen, an der Kollau in Hamburg-Niendorf, nur einmal habe ich dort in den letzten Jahren ein Kind spielen sehen ...
... weil Eltern gern Kontrolle über die Aktivitäten ihrer Kinder haben?
Ich denke, weil sie unsicher sind. Sie gestatten Ihren Kindern gerade noch die Wiese, die sie übersehen können, würden ihnen aber meist nicht erlauben, allein in den Wald zu gehen. Vielen Eltern ist die Natur nicht mehr vertraut und darum nicht geheuer. Kein Wunder, dass auch überbehütete Kinder schnell Angst bekommen. Es gibt aber noch ein Problem: Manche Eltern meinen, ihren Kindern ständig etwas Neues bieten zu müssen, statt sie selbstvergessen spielen zu lassen. Bei zu viel Anreizen langweilen sich die Kinder schnell, werden ungeduldig oder freudlos.
Wie motivieren Sie denn solche Kinder, wenn die in Ihre Projektwerkstatt LebensRaum in Hamburg-Niendorf kommen?
Ich packe den Bollerwagen, und dann ziehen wir los, sammeln zum Beispiel Knoblauch-Rauke, machen in einer Werkstatt im Wald Knoblauchbutter daraus und backen Brot dazu. Die Butter muss lange geschüttelt werden – das erfordert Geduld, die man manchen Kindern erstmal beibringen muss. Ich versuche, sie mit meiner Begeisterung anzustecken und spätestens, wenn sie die selbst zubereitete Mahlzeit im Wald verspeisen, sind sie zufrieden und stolz – und gespannt darauf, was die Natur sonst noch Leckeres zu bieten hat. Das nächste Mal suchen wir Giersch, Rauke, Spitzwegerich oder Gänseblümchen und würzen unser Quarkbrot damit. Nebenbei lernen die Kinder Kräuter kennen, von denen sie vorher nicht wussten, dass sie essbar sind.
Kinder lernen durch das Sein, wenn sie sich in ihre Beobachtungen vertiefen, wenn sie selbst entdecken können.
Das Wort Naturanalphabetismus macht die Runde – eine Übertreibung?
Ich denke ja. Denn trotz allem wissen die Kinder viel. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich an den Waldspielen der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald teilnehme; dort leite ich Fortbildungen. An den Waldtagen nehmen Kinder aus vierten Klassen und gelegentlich fünf Nationen teil. Meistens können sie die gestellten Aufgaben lösen. Ich erinnere mich an ein asiatisches Mädchen, das zwar nicht auf den Namen Buchecker kam, immerhin aber erinnerte, dass diese Frucht etwas mit „um die Ecke gehen“ zu tun hat. Die Kinder haben ein Grundwissen; das muss nur geweckt und durch Erfahrungen in der Natur bereichert und vertieft werden.
Was genau können Kinder denn in der Natur lernen?
Ganz elementare Dinge, wie furchtbar schwitzen, richtig frieren, nass werden, Unheimliches erleben, Angst haben. Kinder bekommen ja oft gar keine Chance mehr, große Gefühle zu entwickeln. Das aber können sie bei uns im geschützten Rahmen. Sie werden animiert, sich mit der Umwelt und mit sich selbst zu befassen, Freiheit und Abenteuer zu erleben. Ein kleines Mädchen hat mich neulich im Wald etwas unsicher gefragt: „Gibt’s hier Wölfe?“ Sie wollte unbedingt, dass es welche gibt, um ihrer Angst einen Namen zu geben. Übrigens: Die spannendsten Waldnachmittage haben die Kinder erlebt, wenn es wie aus Kübeln geschüttet hat.
Wieviel Programm braucht Naturbildung?
Um ehrlich zu sein: Ich bereite jedes Mal, bevor ich mit Kindern in den Wald gehe, ein Programm vor, bin aber bereit, es über Bord zu werfen, wenn die Situation das verlangt. Alles ist möglich. Freiheit und die Möglichkeit zur Improvisation bewirken ja erst den Zauber solcher Waldgänge. Ich bin ein Teil der Gruppe, höre den Kindern zu, staune mit, partizipiere an ihren Erfahrungen und versuche, Fragen und Anregungen gemeinsam mit ihnen weiterzuspinnen. Wir machen wilde Sachen. Kinder lernen durch das Sein, wenn sie sich in ihre Beobachtungen vertiefen, wenn sie selbst entdecken können. Dabei wollen sie nicht reglementiert werden. Aber keine Sorge: Ganz nebenbei lernen sie auch Frühblüher, Herbstblätter, Bäume, Köcherfliegenlarven und Waldtiere kennen.
Sie sind auch mit Kita-Kindern und deren Betreuerinnen unterwegs?
Ja, sehr gern und oft. Die Kinder und ihre Erzieherinnen kommen regelmäßig in den Wald und sind begeistert bei der Sache. Zum Beispiel haben Kinder einer meiner Kita-Gruppen einmal ein Waldsofa gebaut. Dazu sammelten sie dicke Stöcke, legten sie zu einer Sitzfläche zusammen und polsterten sie mit Moos. Am Ende haben alle darauf gesessen, gesungen und gefrühstückt. Ein Riesenspaß, und die Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass man gemeinsam etwas schaffen kann, was allein nicht klappen würde.
Ihre Gruppen heißen „Monster“-Füchse oder „Wolfsrudel“ – klingt abenteuerlich ...
Die Kinder sollen ja auch kleine Abenteuer bestehen. Bei den sieben- bis dreizehnjährigen „Wölfen“ werden sogar „Bandenkriege“ spielerisch ausgetragen. Unsere Regeln im Wald sind einfach. Die Kinder dürfen sich bis auf Rufweite entfernen, wenn aber Wolfsgeheul ertönt, ist Zurückkommen angesagt – in den Schutz des Rudels. Und das funktioniert. Verantwortliches Verhalten muss nicht verordnet werden, es stellt sich sozusagen spielerisch ein.
Bei den vierjährigen „Marienkäfern“ geht es wohl weniger wild zu?
Ja, die verstecken sich lieber im Tipi, sammeln Stöcke und Steine zum Verschenken oder gehen mit Spiegeln durch den Wald, um die Bäume aus der Eichhörnchen-Perspektive zu entdecken.
Wie kamen Sie darauf, mit den Kindern einen Engel-Landeplatz zu bauen?
Das war letztes Jahr vor Weihnachten. Wir hatten das Buch „Engel braucht Hilfe“ von Ingrid und Dieter Schubert gelesen. Da landet ein Engel im Baum und bricht sich einen Flügel. Das hat die Phantasie der Kinder stark beschäftigt. So einen Unfall wollten sie in Zukunft unbedingt verhindern. Gemeinsam sind wir in den Wald gegangen und haben im Dunkeln aus Stöcken zuerst eine Leiter gebaut und dann den Engellandeplatz mit viel Glitzer und silbernen Flügeln am Ende der Leiter geschmückt. Ein paar Tage später waren die glänzenden Flügel verschwunden. Die Kinder waren traurig, berichteten in ihren Familien und bei Bekannten über den Verlust ... wie durch ein Wunder hing das Flügelpaar am ersten Weihnachtstag wieder an der richtigen Stelle.
Die Wirkung der Natur erfüllt sich im Erleben, über das Gefühl – ganz nebenbei!
Werden naturerfahrene Kinder umweltbewusstere Erwachsene?
Da habe ich ein gutes Beispiel: Beim Schnitzen wurde ein Junge plötzlich übermütig und warf sein Messer gegen einen Baum. Der Saft spritzte heraus. Alle reagierten verstört. Auch der Täter war schockiert, weil er, aus purem Übermut, den Baum schwer verletzt hatte. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, berieten sich die Kinder. Am Ende haben wir mit Uhu ein Blatt auf die Wunde geklebt und bei den nächsten Ausflügen immer wieder nachgesehen, ob sie heilt. Die Wunde hat sich geschlossen. Die Kinder waren glücklich. Eine nachhaltige Naturerfahrung. Die Wirkung der Natur erfüllt sich im Erleben, über das Gefühl – ganz nebenbei!
Das Gespräch führte Susanne Kunckel