„Naturerfahrung ist ein soziales Thema“

Uta Eser

Mann alleine im Wald
Naturpädagogik und das Wohlergehen der Natur müssen nicht im Widerspruch stehen. Auch nicht aus moralischer Sicht, findet die Umweltethikerin Uta Eser.

Haben Sie als Kind oft in der Natur gespielt? Oder ist dies eine für eine Philosophin unzulässige Einstiegsfrage? Sollte ich erst fragen: Was ist Natur?

Nein, das ist eine völlig zulässige Frage, zumal ich ja auch nicht ursprünglich Philosophin bin, sondern gelernte Biologin. Die Philosophie kam erst später hinzu. Aufgewachsen bin in in einer landwirtschaftlichen Umgebung, das hat meine Kindheitserfahrungen stark geprägt. Ich war sehr viel draußen in der Natur und habe dort gespielt. Aber ich wusste immer auch, was es bedeutet, wenn das Einkommen der Familie von einer Ernte im Jahr abhängt. So war ich von Anfang an vor allzu idealistischen Naturbildern gefeit.

Und waren das gute oder schlechte Erfahrungen, die Sie in der Natur gemacht haben?

Überwiegend gute. Wir hatten einen riesengroßen Garten, wo man frei spielen und sich entfalten konnte. Was Kinder in der Natur ausprobieren, ist natürlich nicht immer nur gut. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass wir einmal draußen im Weinberg einen ganzen Eimer Weinbergschnecken gesammelt und sie zum Entsetzen unserer Eltern alle auf einem Stein zermatscht haben. Aber neben dem Spielen gehörte zu meiner Kindheit auch das Arbeiten im Weinberg, was ich sehr schön fand, aber das empfanden nicht alle Geschwister so. Für mich war das alles sehr positiv besetzt, diese Ruhe da draußen, die konzentrierte Arbeit, der Umgang mit der Natur; zu pflanzen, zu sähen und zuzuschauen, wie es gedeiht, so dass man dann ein paar Jahre später ernten kann. Das waren tolle Naturerfahrungen.

Was können Kinder von der Natur lernen?

Die Frage müsste besser lauten: Was erleben, was erfahren Kinder in der Natur? Das Wichtigste dabei ist die Empathie, also Natur als Resonanzraum zu erfahren und zu erleben. Dass die Natur in mir etwas mit der Natur um mich herum zu tun hat. Das ist zumindest meine Erfahrung, auch mit meinen eigenen Kindern. Sie sprechen sehr stark auf Natur und vor allem auf Tiere an, und ich glaube, das hat etwas damit zu tun, dass man Ähnlichkeiten mit sich selbst erkennt. Das scheint mir sehr wichtig für die Entwicklung ethischer Maßstäbe zu sein. Das kann man in der Natur viel besser lernen als in einem abstrakten Unterricht.

Vieles von dem, was wir als Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur wahrnehmen, sind in Wirklichkeit Konflikte zwischen verschiedenen Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen.

Inwiefern sind Naturerfahrungen für den Menschen körperlich und seelisch wichtig?

So sehr wir Individuen sind in der Moderne, ist die Erfahrung der Verbundenheit mit dem, was um uns herum ist, und was unsere enge individuelle Begrenztheit übersteigt, sehr wohltuend. Nicht das Gefühl zu haben, ein Einzelner zu sein, der alleine ist, sondern verbunden zu sein mit anderen Menschen und eben auch mit der nichtmenschlichen Natur, die uns umgibt und von der wir ein Teil sind.

Kann man sagen, dass Menschen, die eine engere Beziehung zur Natur haben und sie besser kennen, auch eher bereit sind, sich für ihren Schutz einzusetzen?

Ja und nein. Einerseits glaube ich schon, dass eine Erfahrung von Natur und eine emotionale oder ästhetische Bindung die Voraussetzung dafür sind, aber es ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Wenn wir uns den Zustand der Welt angucken, dann bin ich sicher, dass viele, die diesen Zustand zu verantworten haben, selbst noch eine Kindheit hatten, in der sie mehr Naturerfahrungen machen konnten als Kinder heute. Und dies hat ja trotzdem nicht verhindert, dass die Welt sich so entwickelt hat und sie dazu beigetragen haben. Also reicht es offenbar nicht aus, Naturerfahrungen zu machen. Aber es ist sicher eine wichtige Voraussetzung.

Über Uta Eser

Dr. Uta Eser ist freiberufliche Umweltethikerin in Tübingen. Sie beschäftigt sich mit ethischen Dimensionen der Biodiversitätspolitik und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Mehrfach war sie für das Bundesamt für Naturschutz (BfN) als Gutachterin tätig. Derzeit entwickelt sie im Auftrag des BfN Kommunikationsmaßnahmen zu ethischen Fragen im Umwelt– und Naturschutz.

www.umweltethikbuero.de

Man kann ja die Natur auf sehr verschiedene Weise erleben: Als Spaziergänger, Pilzsammler, als spielendes Kind, als Skifahrer, als Jäger oder Landwirt. Nicht jede Naturerfahrung ist eine, die man in einem intakten Ökosystem macht. Es kann sogar regelrechte Interessenkonflikte zwischen dem Naturerleben und dem Naturschutz kommen. Geht es bei solchen Konflikten um Ethik?

Immer, wenn es um Verteilung einer knappen Ressource geht, um konkurrierende Interessen, dann ist es eine ethische Frage, ob es Möglichkeiten gibt, solche Interessenkonflikte zu lösen, ohne dass sich einfach das Recht des Stärkeren durchsetzt. Die Frage der Kriterien, nach denen man entscheidet, ist immer eine ethische. Konflikte zwischen Naturschutz und Naturerleben gibt es ja vor allem dort, wo man Natur schützen will, indem man sie unter eine Käseglocke stellt, also ein Naturschutz, der Menschen ganz ausschließt und Natur sich selbst überlassen will, ohne dass Menschen in irgendeiner Weise etwas davon haben. Doch vieles von dem, was wir als Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur wahrnehmen, sind in Wirklichkeit Konflikte zwischen verschiedenen Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen. Der eine möchte gerne, dass ein Gewerbegebiet gebaut wird, weil er hofft, dass mehr Menschen in Arbeit und Lohn kommen, ein anderer möchte seinen Acker behalten und ein Dritter will dort am liebsten ein Naturschutzgebiet haben, damit er von seinem Wohnort aus da spazieren gehen kann und schöne Biotope mit interessanten Arten vorfindet. Es würde uns helfen, solche Konflikte zu lösen, wenn wir das nicht immer so darstellen würden, als gäbe es auf der einen Seite Menschen, die Interesse an Arbeit und Einkommen haben, und auf der anderen Seite Frösche, die Interesse an intakten Biotopen haben, sondern eben als zwischenmenschliche Konflikte. Und oft sind es ja sogar dieselben Menschen, die Arbeit und Einkommen wollen und bei ihren Spaziergängen trotzdem gerne Frösche beobachten.

Also hat der Mensch als solches keinen Konflikt mit der Natur?

Konflikte mit der Natur haben wir auf jeden Fall. Auch jedes Tier hat das. Auch der Biber, der Wasser staut, oder der Vogel, der Nester baut, greift in die Natur ein und verändert sie. Das könnte man auch als Konflikt begreifen. Oder auch das Verhältnis von Räuber und Beute. Und so tierisch sind wir Menschen auch. Alles, was wir essen und tun, wirkt sich auf die Natur aus, tritt mit ihr in Konflikt. Doch solche Konflikte sind unvermeidlich, deshalb ist es nicht ergiebig, sich mit ihnen zu befassen.

Breitwegerich

Sie differenzieren zwischen „Naturerlebnis“, „Naturästhetik“ und Naturbeziehung“, was ist der Unterschied?

Ein „Naturerlebnis“ ist die oberflächlichste und am stärksten nutzenorientierte Form der Naturbegegnung. Da reiht sich das Erleben von Natur in die Fülle anderer Events unserer Gesellschaft ein. Wenn man Natur konsumiert als etwas, das Spaß macht oder hübsch aussieht. „Naturästhetik“ bedeutet hingegen eine bestimmte Art der Aufmerksamkeit, bei der es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob das schöne oder nicht so schöne Natur ist. Eine solche Erfahrung kann ich auch mitten in der Großstadt machen, wenn ich zum Beispiel eine Pflasterritzenvegetation sehe und wahrnehme, wie dieser kleine Löwenzahn sich durch eine Ritze im harten Asphalt bohrt und zum Blühen kommt. Da kann ich eine ästhetische Erfahrung machen, obwohl es sich überhaupt nicht um so etwas wie schöne oder schützenswerte Natur handelt. Das Dritte, was ich „Naturbeziehung“ genannt habe, fängt da an, wo man nicht mit einem instrumentellen Blick auf die Natur zugeht. Also wenn man sich nicht mehr fragt: Was kann ich damit machen, kann ich da Häuser drauf bauen oder Kleider draus weben oder Essen draus kochen. Bei solchen Fragen begegnet ein Ich einem Es, das keine eigene Seele hat. Naturbeziehung dagegen bedeutet, der Natur als einem Du zu begegnen, so dass es zu einer wechselseitigen Beziehung kommt. Bei Tieren ist es ja klar, dass man sie nicht nur anschaut, sondern sie auch zurückschauen. Aber auch bei Pflanzen ist die Beziehung wechselseitig, ihr Schicksal hängt von uns ab und unseres von ihnen. Das zu begreifen, meine ich mit Naturbeziehung.

Naturbeziehung bedeutet, der Natur als einem Du zu begegnen, so dass es zu einer wechselseitigen Beziehung kommt.

Welche Bedeutung hat Naturbildung in diesem Zusammenhang? Ob man alle weltweit 200 Arten von Spechten kennt oder nur eine, ist ja zum Beispiel für das Naturerlebnis des Städters, der am Wochenende in den Wald fährt, wenig relevant.

Das stimmt zwar, aber es hängt doch miteinander zusammen. Man kennt das von Menschen auch: Menschen, die man besser kennt, kann man sich besser merken, kann man differenzieren, während Unbekannte sozusagen einer wie der andre aussehen. Die Beziehung zur Natur ist eine Voraussetzung dafür, ein Interesse an der Vielfalt der Natur zu entwickeln. Aber es ist nicht notwendig, dass man die ganze Vielfalt kennt. Der Naturschutz funktioniert ja auch so, dass es ein paar charismatische Arten gibt, auf die Menschen ansprechen. Und dann genügt es schon zu sagen: Wenn diese Tierart weiterleben soll, dann braucht sie ein intaktes Ökosystem. Man muss gar nicht wissen, welche Tiere, Pflanzen und Mikroben im Einzelnen in diesem Ökosystem leben.

Wenn wir davon ausgehen, dass Naturerfahrungen auch gut für das menschliche Wohlergehen sind, stellt sich aus ethischer Sicht die Frage nach der Gerechtigkeit, also dem Zugang zur Natur für alle. Wo sehen sie da die größten Herausforderungen?

Einerseits in der Art und Weise, wie wir unsere Städte organisieren, die auf die Bedürfnisse von Autos und nicht auf die Bedürfnisse etwa von Kindern, die Natur erleben wollen, zugeschnitten sind. Es gibt nur wenige Winkel, die sich selbst überlassen sind, wo man Begegnungen mit der Natur haben kann, die von niemandem initiiert, beobachtet oder bewertet werden, wo man einfach ohne Aufsicht von Erwachsenen draußen sein kann. Städtebaulich wird Naturerfahrung, um es vorsichtig zu sagen, nicht gerade erleichtert. Das ist ein soziales Thema. Einen anderen Gerechtigkeitsaspekt, den ich nennen will, kennt jeder, der schon mal mit einem Reiseführer in die angeblich noch ganz unberührten Ecken dieser Welt gefahren ist. Naturerleben hat immer auch mit Exklusivität zu tun. Wenn ich in ein schönes Naturschutzgebiet fahre und dann sind da noch 500 andere Besucher, beeinträchtigt das mein Naturerleben. Da kann es durchaus Konflikte geben und dann muss man schauen, wie man das möglichst gerecht klären kann, so dass nicht nur die Zahlungskräftigsten zum Beispiel in den Genuss kommen, das zu erleben, sondern die anderen auch.

Es fehlt vielen Menschen einfach das Bewusstsein dafür, wie gut es ihnen tun würde, mehr draußen zu sein.

Der Zugang zur Natur ist also nicht nur deshalb für manche Menschen eingeschränkt, weil für sie keine Naturräume erreichbar sind?

Ich habe diesbezüglich keine empirischen Daten. Ich kann daher nur sagen, dass ich glaube, dass die fehlende Naturerfahrung von vielen Bevölkerungsgruppen weniger mit der fehlenden Verfügbarkeit von Natur zu tun hat als mit dem fehlenden Wissen darüber, was einem da entgeht. In den meisten Städten kann man mit geringem Aufwand in die Natur gelangen. Ein U-Bahn-Ticket nach draußen an den Stadtrand ist ja nicht teurer als eines ins nächste Kino. Es fehlt vielen Menschen einfach das Bewusstsein dafür, wie gut es ihnen tun würde, mehr draußen zu sein.

Also Naturbildung als Beitrag zur Naturgerechtigkeit?

Genau. Hier sind Ansätze wie die Naturpädagogik sehr berechtigt, gerade bei Kindern, die nicht von Anfang an mit Natur in Kontakt sind, sondern die in einer sehr urbanen Welt leben.

Weinberg

Wenn man den Menschen ein Recht auf Natur einräumt, stellt sich die Frage, wer dieses Recht durchsetzen soll, gegen wen es durchgesetzt werden muss und ob ein Recht auf Natur im Umkehrschluss auch eine Pflicht zum Schutz der Natur zur Konsequenz haben muss.

„Recht“ ist in der Moralphilosophie ein relativ starkes Wort, es formuliert einen begründeten Anspruch. Und man kann nicht von Rechten reden, wenn sie nicht in irgendeiner Weise mit einer Pflicht korrespondieren. Wenn ich ein Recht auf etwas habe, dann muss es irgendjemanden geben, gegenüber dem ich dieses Recht einklagen kann. Aber man muss unterscheiden zwischen Anspruchsrechten und Abwehrrechten. Wenn ich sage, ich habe ein Recht auf Natur, dann könnte das bedeuten, irgendjemand, also der Staat zum Beispiel, ist verpflichtet, mir diese Natur zur Verfügung zu stellen. Das wäre ein Anspruchsrecht. Ein Abwehrrecht wäre, dass mir niemand die Naturerfahrung, die mir wichtig ist, streitig machen darf. Um es plastischer zu machen: Wenn ich sagen würde: „Ich habe ein Recht auf Freunde“, dann kann das ja nicht sinnvollerweise heißen, dass irgendjemand dafür zu sorgen hat, dass ich auch Freunde habe oder Freunde finde. Das kann ja nur bedeuten, dass, wenn ich Freunde habe, niemand das Recht hat, mir diese Freundschaft zu untersagen.

Nun ist ja für manche Naturliebhaber die Natur vor allem eine Kulisse für die eigenen kulturellen Ansprüche, ob sie nun wandern, picknicken oder angeln wollen. Sie können aus dieser Motivation heraus sehr wohl aktive Naturschützer sein. Ist das aus ethischer Sicht geringer zu schätzen, als wenn jemand die Natur um ihrer selbst willen schützen möchte?

Solche Argumentationen hört man oft. Da wird dann so getan, als seien die wahrhaft ethischen Motive nur die, die auf die Bedürfnisse der Natur Rücksicht nehmen. Ethik heißt natürlich immer: Rücksicht auf andere. Reiner Egoismus wäre keine ethische Begründung. Wenn jemand sagt, er braucht eine schöne Kulisse zum Skifahren, wäre das kein moralisches Argument. Sobald er jedoch sagt, andere Menschen brauchen diese Kulisse, damit sie Skifahren und auf diese Weise die Natur erleben können, dann wäre es schon eine ethische Begründung. Denn Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer Menschen ist ja ein Gebot der Ethik.

Es gibt ja nicht nur ein Recht auf Natur, sondern auch ein Recht auf Kultur. Früher, als die Menschen mehr im Einklang mit der Natur lebten, war die Welt ja nicht unbedingt eine bessere, die Menschheit nicht friedlicher, nicht gesünder als heute. Ist das Verhältnis von Natur und Kultur eine ethische Abwägungsfrage? Oder kann man Natur und Kultur gar nicht trennen?

Ich würde es so sagen: Unterscheiden muss man sie auf jeden Fall, trennen kann man sie in der Tat nicht. Ich kann unterscheiden, ob etwas eine kulturelle Leistung oder ein Naturprodukt ist, aber empirisch lässt es sich nicht trennen. Eine Weinbergsmauer zum Beispiel hat einen hohen naturschutzfachlichen Wert, aber sie verdankt ihre Existenz der Tatsache, dass Menschen kulturell tätig waren und Wein angebaut haben. Und so hängt in der Praxis fast alles letztlich zusammen. Wir haben ja seit über 20 Jahren das weltweite Ziel einer nachhaltigen Entwicklung, wie es 1992 bei der Weltumweltkonferenz in Rio verabschiedet wurde. Und da heißt es im ersten Absatz der Deklaration: Die Menschen haben ein Recht auf ein gesundes und produktives Leben im Einklang mit der Natur. Da ist das zusammengedacht. Also: Entwicklung ja, aber nicht auf Kosten der Natur. Ich finde, so lassen sich Kultur und Natur gut zusammendenken.

Das Gespräch führte Ivo Bozic