Weiße Hasen: nicht unschuldig, sondern kämpferisch
Was den Schneehasen mit Tizians Madonna und Ostern verbindet

Unschuldig in der Kunst, bedroht in der Natur: Das berühmte Gemälde „Madonna mit dem weißen Kaninchen“ von Tizian zeigt Maria mit dem Jesuskind, begleitet von der heiligen Katharina von Alexandrien – mit einem weißen Kaninchen im Vordergrund. Das Bild, um 1530 entstanden, hängt heute im Louvre in Paris. Doch warum ist ein Kaninchen auf einem religiösen Renaissance-Gemälde zu finden?
Hasen und Kaninchen zählen beide zur Familie der Hasenartigen. Ihre weißen Vertreter symbolisieren in der Kunst Reinheit und Unschuld. Kunsthistoriker deuten sie zudem als Symbol für die jungfräuliche Geburt – eine Vorstellung, die ihren Ursprung in der Antike hat. Die bei uns lebende Wildform der weißen Hasen, der Alpenschneehase (Lepus timidus varronis), hat hingegen wenig mit Jungfräulichkeit zu tun.
Der Schneehase gehört mit zu den fruchtbarsten Säugetieren der Alpen: Schneehasen bekommen zwei bis drei Mal im Jahr Nachwuchs. Besonders im Frühjahr, bis Ende April, ist bei Hasens Hauptpaarungszeit: Dann jagen Hase und Häsin einander und teilen gegenseitige Boxhiebe aus. Nur kräftige Rammler halten dies durch und werden anschließend von den Weibchen zur Paarung zugelassen. Häsinnen können während ihrer Tragezeit von etwa 50 Tagen in seltenen Fällen sogar nochmals befruchtet werden. Dann befinden sich Junghasen unterschiedlicher Entwicklungsstadien zeitgleich in der Gebärmutter, und der Abstand zwischen zwei Geburtsereignissen verkürzt sich deutlich – diesen Trick von Mutter Natur nennt man Superfötation oder Schachtelträchtigkeit.
Bei der Partnersuche ist die Häsin durchaus offen für die Avancen naher Verwandter: Weibliche Schneehasen ziehen unter Umständen einen Feldhasen für die Paarung vor, weil dieser größer und stärker als ein Schneehase ist. Der Nachwuchs dieser Begegnungen ist fortpflanzungsfähig – mit möglicherweise gravierenden Folgen für den Artbestand des Alpenschneehasen. Wie häufig diese Hybridisierungen vorkommen, erforscht Dr. Stéphanie Schai-Braun, Trägerin des Forschungspreises 2023 der Deutschen Wildtier Stiftung. Ihre Studien sollen zeigen, wie stark der Klimawandel die genetische Reinheit und das Verbreitungsgebiet von Schnee- und Feldhasen beeinflusst. Denn mit dem klimawandelbedingten Temperaturanstieg dringt der Feldhase immer häufiger und immer weiter in Höhenlagen von 1.300 Metern und darüber vor – also ins Revier des Alpenschneehasen.
Auch die schneeweiße Weste des Schneehasen wird im Frühling weniger rein: Ab April beginnt sein Fell sich zu verfärben. So passt sich das Tier der schneelosen Umgebung an. Sein Pelz wird scheckig und schließlich braun. Dadurch verschmelzen die Hasen optisch mit ihren steinigen Verstecken unter Wurzeln und zwischen Zwergsträuchern der Alpen und sind so gut geschützt vor Fressfeinden wie dem Steinadler oder dem Fuchs. Wegen des Klimawandels und des damit einhergehenden Rückgangs von geschlossenen Schneedecken in den Bergen kommt der Fellwechsel allerdings mittlerweile oft zu spät – und der Alpenschneehase sitzt in seiner weißen Pracht auf der grünen Wiese. Hybridisierung und Klimawandel bedrohen den Alpenschneehasen. Es gilt, ihn zumindest vor Störungen durch den Menschen zu schützen. Damit er und seine weißen Verwandten nicht bald nur noch im Museum zu sehen sind.