Zu Hause zwischen Steinplatten
Berliner Gehwege bieten wertvollen Lebensraum für bodennistende Wildbienen und Wespen
Pflastersteine am Rand und etwas größere Steinplatten in der Mitte – so sieht ein klassischer Berliner Gehweg aus. Das Muster, das so viele Menschen täglich achtlos mit Füßen treten, hat viele Vorteile: Es ist nicht nur hübsch, sondern sorgt auch dafür, dass Regenwasser schnell versickern kann. Und es fördert die Artenvielfalt in der Hauptstadt, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt. Denn in den Spalten zwischen den Steinen können viele bodennistende Insekten ihre Gänge graben. Bienenwolf, Hosenbiene, Fuchsrote Sandbiene und viele andere Arten finden in den Gehwegen einen Lebensraum. Die Eingänge zu ihren unterirdischen Bauwerken sind leicht zu entdecken, auch in anderen Städten.
Wer mit offenen Augen und einem Blick für die Stadtnatur durch Berlin spaziert, wird schnell die vielen Wildpflanzen entdecken, die zwischen Pflasterritzen und Gehwegspalten wachsen und dabei ein bisschen ungezähmt aussehen. Seit ein paar Jahren darf auch das Straßenbegleitgrün blühen – ein Teilerfolg der 2018 beschlossenen „Strategie zum Schutz und zur Förderung von Bienen und anderen Bestäubern in Berlin“. An vielen Orten entstehen Insektengärten, statt Stiefmütterchen pflanzen die Bezirke Wildstauden. Und unsere Stiftung legt im Rahmen des Projekts „Mehr Bienen für Berlin – Berlin blüht auf!“ Blühflächen im öffentlichen Raum an. All diese Maßnahmen sorgen dafür, dass es in den Hinterhöfen, in Gemeinschaftsgärten und an den Wegrändern der Hauptstadt summt und brummt – vielleicht mehr denn je.
Was die meisten Spaziergänger in Berlin vermutlich übersehen: Die Wildbienen, die die vielen Blüten umschwirren, graben an warmen Sommertagen Löcher in die Fugen zwischen den Gehwegplatten und türmen Sand zu kleinen Häufchen auf. Hosenbienen, Furchenbienen und Sandbienen haben den ungewöhnlichen Lebensraum für sich entdeckt. Sie bauen ihre Nester dorthin, wo sie zwar nicht ganz ungestört, aber gut geschützt sind. So zum Beispiel die Heuschrecken-Sandwespe (Sphex funerarius), die größte deutsche Grabwespe. Sie galt bis vor wenigen Jahren in Berlin als ausgestorben.
Laut einer aktuellen Untersuchung nisten mehr als zwanzig solitäre – also einzeln, nicht im Staat lebende – Wespenarten und fast dreißig Wildbienenarten zwischen den Berliner Pflastersteinen. „Vermutlich sind es sogar deutlich mehr. Wir können davon ausgehen, dass ein Großteil der bodennistenden Wespen- und Wildbienenarten auch in Gehwegfugen Nester bauen kann. Manche Arten scheinen diesen menschengemachten Lebensraum sogar zu bevorzugen“, erklärt Dr. Sophie Lokatis, Mitarbeiterin unseres Wildbienenteams. Sie hat die Studie geleitet, die demnächst in der Fachzeitschrift Urban Ecosystems erscheinen wird.
Lokatis untersuchte mit ihrem Team zwölf Standorte: typische Berliner Gehwege aus kleinen und großen Steinplatten, jeweils in einem Abschnitt von 100 Metern. Alle Bienen und Wespen, die dort Nester bauten oder verdächtig um Nesteingänge kreisten – einige Arten leben parasitär und bauen nicht selbst –, fingen die Ökologinnen ein, um sie zu bestimmen. Die Standorte lagen in unterschiedlich stark versiegelten Wohngegenden der Hauptstadt. Bei vier Gehwegstandorten befand sich ein speziell für Insekten gestalteter, blütenreicher Garten im Umkreis von 200 Metern.
Die Ergebnisse der Untersuchung waren überraschend: Die Zahl der umliegenden Grünflächen hatte keinen wesentlichen Effekt auf Zahl und Artenvielfalt der bodennistenden Wildbienen und Wespen. Mehr Grün bedeutet also nicht automatisch mehr Bodennister. Auffällig war aber, dass auf den Gehwegabschnitten in der Nähe eines blühenden Gartens viel mehr Tiere nisteten als an den anderen Standorten. Auch die Artenzahl war dort deutlich erhöht. Entscheidend sind also nicht die Zahl oder die Größe der Grünflächen im Umfeld eines Gehwegs, sondern ihre Qualität als Lebensraum: Gibt es viele Blüten und unterschiedliche Strukturen, nisten in den benachbarten Wegen auch mehr Insekten.
Umgekehrt könnte man schließen, dass Gehwege eine große Bedeutung als Nistplätze für die in Insektengärten geförderten Arten haben. Fast drei Viertel der Wildbienenarten in Deutschland bauen ihre Nester im Boden – doch in Großstädten wird der Wohnraum für sie knapp. Studien deuten darauf hin, dass Bodennister wegen der Flächenversiegelung stärker unter der Urbanisierung zu leiden haben als andere Wildbienen. Da können die Berliner Gehwege Abhilfe schaffen. Die Insekten besiedeln bevorzugt sonnenbeschienene Randbereiche, auf denen nur wenige Fußgänger unterwegs sind.
Oft nisten im Lauf eines Jahres an einem Ort mehrere Arten neben- und nacheinander. Die ersten Sandhäufchen, die an warmen Frühlingstagen Ende März zwischen den Gehwegsteinen auftauchen, stammen von früh fliegenden Arten, wie der Frühlings-Seidenbiene (Colletes cunicularius) oder der Fuchsroten Sandbiene (Andrena fulva). Etwas später tritt die Hosenbiene (Dasypoda hirtipes) auf den Plan, die mit den gelben Haaren an ihren Beinen Pollen von Ferkelkräutern und Wegwarten sammelt. Da die Blüten dieser Pflanzen nur bis zum frühen Nachmittag geöffnet sind, verschwinden die Hosenbienen nachmittags in ihren Bodenlöchern. Im Juni wird der Bienenwolf (Philanthus triangulum) aktiv: Seine Nester erkennt man am elliptischen Auswurf und an den toten Honigbienen, die manchmal rundherum liegen – diese spezielle Beute findet die Grabwespenart dank der Stadtimkerei in Berlin im Überfluss. Knotenwespen (Cerceris) schütten kleine Häufchen auf. An Pflanzen fangen sie Rüsselkäfer, die sie in ihre Nester tragen. Auch parasitäre Arten ziehen über den Nesteingängen in den Gehwegen ihre Kreise, etwa die Blutbienen (Sphecodes) oder die in schönsten Farben glänzenden Goldwespen (Chrysididae).
Die Berliner Gehwege werden traditionell aus Pflastersteinen am Rand und etwas größeren Gehwegplatten in der Mitte zusammengesetzt, die auf einem Sandbett liegen. Das ist für viele bodennistende, teilweise bedrohte Arten ideal. Eine Asphaltierung oder die Verlegung größerer Platten mag manchmal einfacher oder ästhetischer erscheinen, besser für die Biodiversität ist aber der Hauptstadtklassiker.
Gute Bedingungen für Bodennister bietet auch die belgische Hauptstadt Brüssel. Eine Studie unter der Leitung des Ökologen Dr. Grégoire Noël hat gezeigt, dass es dort wie in Berlin eine höhere Dichte an bodennistenden Arten gibt. Deutlich schlechter sieht es in Großstädten wie Paris oder Wien aus – dort ist viel asphaltiert oder die Pflastersteine sind mit Beton verschlossen. Dabei sind offene, von Wildpflanzen und Moosen bewachsene Gehwege nicht nur für die Artenvielfalt eine Chance. Sie helfen auch, die Folgen des Klimawandels abzumildern: Das Wasser von Starkregengüssen zum Beispiel kann durch die Ritzen besser abfließen, erst recht wenn die Gehwege von Insekten untertunnelt sind.
Dass es summende Pflasterritzenbewohner nicht nur in Berlin und Brüssel, sondern auch in vielen anderen Städten gibt, will das Projekt The Hidden Life of Urban Pavements Cracks zeigen: Auf der Plattform iNaturalist können Nutzer ihre Insektenbeobachtungen melden. Halten Sie doch in Ihrer Stadt auch mal Ausschau!