Wildkatzen-Streifgebiete in Heide und Aue
Erste Ergebnisse zur Raumnutzung eines heimlichen Rückkehrers im Norddeutschen Tiefland
In der Telemetriestudie „Wildkatzen im Norddeutschen Tiefland“ wurden im Frühjahr 2020 insgesamt neun Wildkatzen von uns besendert, um erstmals ihre Streifgebiete und ihre Lebensräume fernab bewaldeter Mittelgebirgsregionen zu erfassen. In der Colbitz-Letzlinger Heide nördlich von Magdeburg wurden insgesamt sechs Wildkatzen mit einem GPS-Halsband ausgestattet, darunter vier Weibchen und zwei Kater. In den Elbauen bei Dessau im Biosphärenreservat Mittelelbe, unserem zweiten Untersuchungsgebiet, gelang die Besenderung von zwei Katern und einer weiblichen Katze. Über Monate haben die GPS-Halsbänder alle zweieinhalb Stunden die Aufenthaltsorte der Wildkatzen gespeichert. Bisher wurden so bereits über 20.700 Lokalisationen gewonnen. Sie bilden die Grundlage für erste Analysen zur Lage und Größe der Aktionsräume.
Neun Wildkatzen wurden im Frühjahr 2020 mit einem GPS-Halsband ausgestattet - Foto: Malte Götz
UNTERSUCHUNGSGEBIET COLBITZ-LETZLINGER HEIDE
In unserem Heide-Untersuchungsgebiet, dem Truppenübungsplatz Altmark, liefern die vier weiblichen und zwei männliche Wildkatzen zum Teil bis heute eindrucksvolle Einblicke in ihre räumliche Organisation. Dabei wurden die unterschiedlichen Wald- und Offenlandlebensräume des großen Gebietes sehr individuell genutzt. Sowohl Laubwälder mit vielen alten Eichen und Buchen, aber auch offene Heideflächen oder Kiefernforste kennzeichnen jeweils einzelne Streifgebiete. Sehr typisch für Wildkatzen zeigen auch hier Kater deutlich größere Streifgebiete als Katzen. Die Aktionsräume der Kater überlagern die mehrerer Weibchen. Anders als bisher in den Kernlebensräumen der Wildkatze dokumentiert, erweisen sich die hier untersuchten Männchen allerdings als wahre Langstreckenläufer mit extrem großen Territorien. Während Wildkatzen, die beim Fang als „ausgewachsen“ eingeschätzt wurden, über die Beobachtungsdauer hinweg stabile Aktionsräume im Gebiet nutzen, erwies sich das Raumverhalten eines im Vorjahr geborenen Weibchens als sehr unstet. An der nördlichen Ausbreitungsgrenze auf der Suche nach einem eigenen Streifgebiet ist diese Katze von ganz besonderem Interesse.
Als außergewöhnlich groß erweisen sich die Aktionsräume der Kater im Untersuchungsgebiet Colbitz-Letzlinger Heide nördlich von Magdeburg. Bei den Bezeichnungen einzelner Wildkatzen stehen die Abkürzungen „M“ für Männchen (male) und „F“ für Weibchen (female) - Kartengrundlage: OpenStreetMap
* Der Kontakt zur jungen Wildkatze F5 ist im Juni 2020 abgebrochen.
„Heidekatzen“ M2 und F1
Der Kater M2 nutzt ein riesiges Streifgebiet, das über 14.000 Hektar umfasst. Die bisher von männlichen Wildkatzen ermittelten Aktionsräume weisen in der Regel Größen von rund 1.500 bis 3.000 Hektar auf. Abgesehen von einzelnen Exkursionen, die für Kater besonders während der Paarungszeit sehr typisch sind, suchte M2 seine Einstandsgebiete während der Untersuchungsdauer von elf Monaten immer wieder auf. Dies spricht dafür, dass er tatsächlich in diesem großen Gebiet sesshaft und nicht auf der Suche nach einem Revier ist. Auch das Weibchen F1, aufgrund einiger gemeinsam genutzter Tagesverstecke offensichtlich eine „gute Freundin“ von Kater M2, nutzt mit über 2.000 Hektar ein für weibliche Wildkatzen überdurchschnittlich großes Streifgebiet. Große Teile der Aktionsräume beider Wildkatzen sind von Heide geprägtes Offenland. Sogar die Geburt der Jungen von F1 erfolgte inmitten der offenen Heidefläche. Dies ist ein überraschendes Ergebnis, denn noch immer gilt die Wildkatze als eine Art, die streng an Waldlebensräume gebunden ist. Allerdings bieten die offenen Bereiche des Truppenübungsplatzes eine Reihe geeigneter Ruheverstecke wie Ginsterbüsche, kleine Gehölzinseln oder alte, ungenutzte Bauwerke. Der Grund für die hohe Ausdehnung der Aktionsräume dieser beiden „Heidekatzen“ ist bisher unklar. Vertiefende Lebensraumanalysen werden zeigen, welche Rolle dem Nahrungsangebot im Offenland und der Verfügbarkeit von Versteckstrukturen bei der Streifgebietswahl zukommen.
Einzelbäume, kleine Büsche, Steinhaufen oder Bunkeranlagen – Verstecke finden Wildkatzen reichlich im Offenland der Colbitz-Letzlinger Heide - Foto: Malte Götz
Mutter F4 und Tochter F5
Das etwa 1.000 Hektar umfassende Streifgebiet der weiblichen Wildkatze F4 befindet sich auch im Aktionsraum des Katers M2. Überwiegend hält sich F4 in einem Laubwald mit Buchen und Eichen und einer großen Fichten-Windwurffläche auf, ohne die Waldstrukturen zu verlassen. Innerhalb des Streifgebietes von F4 wurde wenige Tage nach ihrer Besenderung auch die noch sehr junge Wildkatze F5 gefangen. Wie die GPS-Lokalisationen der beiden Katzen verraten, handelt es sich offensichtlich um Mutter und Tochter, was ihre Untersuchung noch spannender macht. Das Ergebnis einer genetischen Verwandtschaftsanalyse steht noch aus.
Bereits Ende Februar 2020 konnte F5 nicht mehr in der Nähe ihrer vermutlichen Mutter aufgefunden werden und war verschollen. Letztendlich führte im Mai eine Suche nach ihrem Radiosignal aus der Luft zum Erfolg: Dank der Unterstützung von Pilot G. Hellmund vom Flugplatz Ballenstedt konnten wir die junge Katze im südlichen Teil des Truppenübungsplatzes aus einem Ultraleicht-Flugzeug heraus orten. Wie die GPS-Daten später verrieten, hatte sie ihren Aktionsraum Ende Februar um zehn Kilometer weiter nach Süden verlegt. Ihr nahezu 5.000 Hektar umfassender Aktionsraum mit mehreren Aufenthaltsschwerpunkten ist nicht beständig und spiegelt ihre Suche nach einem eigenen Revier wider. Nachdem die für unsere Fragestellung sehr wertvollen Daten zu ihrer Abwanderung aus dem mütterlichen Streifgebiet gewonnen wurden, brach der Kontakt zu F5 im Juni 2020 leider erneut ab.
Peilantenne am Ultraleicht-Flugzeug – nur aus der Luft gelang es, die junge Wildkatze F5 wiederzufinden - Foto: Malte Götz
„Urwaldkatze“ F3 und Kater M9
Eine Fülle von Totholzstrukturen und zahlreiche Baumhöhlen in alten Eichen prägen das kleine Streifgebiet der weiblichen Katze F3. Ihr Alter wurde bei der Besenderung als hoch eingeschätzt – frei lebende Wildkatzen erreichen ein Höchstalter von zehn bis zwölf Jahren. Ihr Streifgebiet umfasst lediglich 484 Hektar. Offenbar bieten ihr die urwaldähnlichen Strukturen ausreichend Nahrung und Versteckmöglichkeiten auf kleinem Raum. Da sich weibliche Wildkatzen in hohem Alter nicht mehr an der Reproduktion beteiligen, ist ihr Raumbedarf reduziert – sie müssen nur noch sich selbst und keine Jungen mit Nahrung versorgen.
Der Aktionsraum des Katers M9 überlagert im Westen den der alten Katze F3 und Räume, die von Jungkatze F5 unmittelbar nach ihrem „Umzug“ genutzt wurden. Insgesamt erstreckt sich sein Streifgebiet über 6.300 Hektar und ist damit mehr als doppelt so groß wie bisher beschriebene Aktionsräume männlicher Wildkatzen. Im Osten nutzte der Kater von Mai bis Dezember 2020 regelmäßig auch Bereiche auf der anderen Seite der neuen Autobahn A14, die erst während des Beobachtungszeitraums für den Verkehr freigegeben wurde. Weitere Analysen werden Auskunft darüber geben, in welchen Bereichen M9 die Trasse querte und ob er eine neu errichtete Wildbrücke nutzte.
Mit Vorliebe nutzt die alte Wildkatze F3 Baumhöhlen als Tagesversteck. Da dickes Eichenholz das Radiosignal und den GPS-Empfang stark abschirmt, ist F3 häufig nicht einfach zu finden und GPS-Ortungen sind nicht möglich - Foto: Malte Götz
UNTERSUCHUNGSGEBIET MITTELELBE
Bereits beim Fang im Frühjahr deutete ihr äußeres Erscheinungsbild darauf hin, dass es sich bei den drei besenderten Katzen an der Mittelelbe um Mischlinge von Haus- und Wildkatzen, sogenannte Hybride handelte. Dies wurde inzwischen durch genetische Analysen bestätigt. Die Untersuchung der Lebensraumnutzung solcher Hybriden ist von großem Interesse. Die Hybridisierung von Haus- und Wildkatzen stellt eine Gefährdung für Wildkatzen dar und sollte besonders überall dort beobachtet werden, wo Lebensräume nur stark begrenzt zur Verfügung stehen.
Streifgebiete der drei Wildkatzen-Hauskatzen-Mischlinge (Hybride) im Untersuchungsgebiet Mittelelbe bei Aken - Kartenmaterial: OpenStreetMap
* Kater M8 kann seit September 2020 nicht mehr aufgefunden werden.
Wildkatzen-Hauskatzen-Mischlinge F6, M8 und M7
Die berechneten Streifgebiete an der Elbe ließen vermuten, dass die drei untersuchten Hybride auch Areale auf der anderen Uferseite nutzten. Dies ist aber nicht der Fall, sondern dem statistischen Verfahren der Aktionsraumberechnung geschuldet. Keine der Katzen hat die Elbe während des Untersuchungszeitraums überquert, wie die GPS-Lokalisationen zeigen. Von allen Katzen liegen aber viele nächtliche Lokalisationen von der Wasserkante und dem angrenzenden Grünland vor. Die unmittelbare Uferregion ist offenbar ein ergiebiges Jagdhabitat mit zahlreichen Wühlmäusen.
Flutrinne und Reste des ehemaligen Deiches in der Kernzone des Biosphärenreservates Mittelelbe - Foto: Malte Götz
Im Lödderitzer Forst, dem westlichen Teil des Untersuchungsgebietes an der Mittelelbe, wurden die weibliche Katze F6 und der noch nicht ausgewachsene Jungkater M8 besendert. F6 nutzt ein Streifgebiet von 751 Hektar, was der Reviergröße weiblicher Wildkatzen entspricht, die in Kernlebensräumen untersucht wurden. Die Auwälder, in denen sie sich besonders häufig aufhält, sind Teil der Kernzone des Biosphärenreservates. Hier können natürliche Prozesse ungestört ablaufen und der sich selbst überlassene Wald bietet einen Reichtum an Verstecken. Nicht unwahrscheinlich ist, dass Kater M8 ein Jungtier von F6 ist. Er hielt sich zunächst nahezu ausschließlich im Aktionsraum der vermutlichen Mutter auf und erweiterte seine Streifzüge dann ab Sommer in Richtung Norden bis zum Ende des bewaldeten Ufers. Seit September 2020 ist der Jungkater verschollen. Sein Aktionsraum umfasste bis zum Verlust des Sendersignals insgesamt 880 Hektar.
Die Wälder und Wiesen westlich von Aken werden von Kater M7 „kontrolliert“. Der erwachsene Kater nutzt ein Streifgebiet von 1.500 Hektar und unternimmt gelegentlich Ausflüge in die Kühnauer Heide, einem Nationalen-Naturerbe-Gebiet südlich der Landstraße L63.
AUSBLICK
Gerade versuchen wir, unsere „Datenlieferanten“ erneut zu fangen, um ihnen die Sender abzunehmen. Gelingt dies nicht, sorgen die Sollbruchstellen im Halsband dafür, dass die untersuchten Wildkatzen nicht den Rest ihres Lebens mit der Technik ausgestattet verbringen müssen. Ihre wertvollen GPS-Daten sind die Grundlage für vertiefende Lebensraumanalysen, die saisonale Aspekte der Aktionsräume und vor allem auch die Habitatwahl berücksichtigen werden.
Unsere Telemetriestudie hat bereits viele Interessenten und Förderer. Mithilfe ihrer Spenden können wir auch in diesem Jahr unsere Forschung vertiefen und weitere Daten sammeln. Wildkatzen, die an der Verbreitungsgrenze geboren wurden und nun als Jungerwachsene auf der Suche nach eigenen Revieren sind, stehen im Mittelpunkt weiterer Untersuchungen in der Colbitz-Letzlinger Heide.
Für den Fang von Wildkatzen werden Holzkastenfallen eingesetzt, die mit Baldriantinktur beködert werden. Fallenmelder sorgen dafür, dass gefangene Tiere so schnell wie möglich besendert und wieder frei gelassen werden - Foto: Malte Götz
Hintergrund
Wer hätte das gedacht – Wildkatzen zurück im Norddeutschen Tiefland! Auch in Sachsen-Anhalt erobert sich die Europäische Wildkatze langsam wieder ehemalige Lebensräume. Vom Harz aus, wo sie in ausgedehnten Wäldern über lange Zeit einen ihrer letzten Rückzugsräume fand, ist die Wildkatze auf dem Weg in den flachen Norden. Ausreichend Versteckmöglichkeiten findet sie inzwischen entlang der Elbe und in den Wäldern und Heiden der Altmark und des Flämings. Die Deutsche Wildtier Stiftung begleitet diese erfreuliche Entwicklung wissenschaftlich und erforscht, welche Ansprüche die streng geschützte Art an Lebensräume außerhalb bewaldeter Mittelgebirgsregionen hat. Das auf zwei Jahre angelegte Projekt wird durch eine Förderung der Postcode Lotterie und durch Spenden unterstützt.
Foto oben (Teaser): © Deutsche Wildtier Stiftung / Malte Götz