Wildkatzennachwuchs im Wolfsrevier
In unserem Telemetrieprojekt „Wildkatzen im Norddeutschen Tiefland“ untersuchen wir das Verhalten von Wildkatzen in Lebensräumen, die sie sich langsam zurückerobern. Im Frühjahr 2020 wurden an der Ausbreitungsgrenze der Wildkatze in zwei Untersuchungsgebieten in Sachsen-Anhalt insgesamt neun Wildkatzen besendert. Seitdem speichern die GPS-Halsbänder regelmäßig ihre Aufenthaltspunkte in den Heidelandschaften der Altmark und in waldreichen Auen an der Mittelelbe. In beiden Untersuchungsgebieten leben Wildkatzen zusammen mit Wölfen, die hier seit einigen Jahren wieder heimisch sind. Der Nachwuchs unserer besenderten Wildkatze „F1“ zeigte sich bereits vor der Kamera.
Mutterkatze „F1“ und ihre vier Jungen im Untersuchungsgebiet „Colbitz-Letzlinger Heide“ nördlich von Magdeburg. Da eine Beobachtung der Jungen kaum möglich ist, helfen Wildkameras, die Anzahl der Jungen zu ermitteln. Neben Kontaktlauten der Wildkatzen ist im Hintergrund auch der seltene Wiedehopf zu hören (ab 0,44 min.) – ein typischer Vogel halboffener, trockener Lebensräume. (Videoaufnahmen: Malte Götz)
Im nördlichen Untersuchungsgebiet, der Colbitz-Letzlinger Heide, hat die besenderte Wildkatze „F1“ ihre Jungen inmitten der Heidelandschaft zur Welt gebracht. Eine seltene Beobachtung, da Würfe der deckungsliebenden Wildkatze bisher nur in Wäldern festgestellt wurden. Anhand von Aktivitätsdaten, die ihr Senderhalsband alle zwei Minuten registriert, konnte der Geburtstermin auf den Zeitraum 12.-13. April eingegrenzt werden. Eine Höhle in einem Lesesteinhaufen, der von Birken umgeben ist, diente als Versteck für die Geburt. Bereits am 17. April verließ „F1“ das mit Unterwolle ausgepolsterte Lager mit ihren Jungen und suchte ein neues Versteck im angrenzenden Waldgebiet auf. Warum die Mutter bereits früh das Jungtierversteck wechselte, ist unklar. Viele Wildkatzenmütter bleiben zunächst für rund einen Monat nach der Geburt mit ihren Jungen im Wurfversteck, sofern dies ausreichend Schutz vor Witterung und Fressfeinden wie Baummarder und Fuchs bietet. Später wechseln die Verstecke der Jungtiere häufiger.
Im Wald suchte Wildkatzenmutter „F1“ Totholzstrukturen am Boden als Versteck für ihre Jungen auf. Seit dem 7. Mai lebte die Katzenfamilie in einem rund sechs Meter langen Baumstamm, der vollständig hohl und von beiden Seiten offen ist.
Im Umfeld des Baumstammes installierte Wildkameras zeigten, dass Füchse und Baummarder die Jungkatzen in ihrem Versteck offenbar aus Angst vor Angriffen der Mutterkatze mieden – nie wurden sie von den Kameras erfasst. Ein neugieriger Wolf dagegen hatte mehr Mut: Erstmals dokumentieren nun Fotos aus unterschiedlicher Perspektive, wie eine Wildkatzenmutter ihre Jungen gegen einen Wolf verteidigt hat, der immer wieder versucht, zu den Jungen zu gelangen. Fast eine halbe Stunde lang stellte sich die Mutterkatze vom Baumstamm aus dem Wolf entgegen, um beide Eingänge ihrer Stammhöhle mit gestäubtem Fell, Katzenbuckel und Fauchen zu verteidigen. Erst in der Morgendämmerung gibt der Wolf erfolglos auf und zieht weiter. Später zeigt sich, dass alle vier Wildkatzenjunge wohlauf sind. Erst am Folgetag verlässt die Mutter mit ihren Jungen das über zwei Wochen lang genutzte Versteck und sucht ein neues auf.
Die Serien-Fotos zweier Kameras dokumentieren, wie Mutterkatze „F1“ im Untersuchungsgebiet „Colbitz-Letzlinger Heide“ ihre Jungen gegen einen neugierigen Wolf verteidigt. (Videoaufnahmen: Malte Götz)
Dass Wölfe regelmäßig Wildkatzen nachstellen und deren Junge als Nahrung nutzen ist unwahrscheinlich, da sie auf viel größere Nahrungsmengen angewiesen sind. Neben Rehen, Hirschen oder jungen Wildschweinen, werden aber auch Hasen als kleinere Beutetiere gejagt. Bei den Wölfen in der Colbitz-Letzlinger Heide ist ihr Anteil in der Nahrung sogar relativ hoch, da Hasen hier optimale Lebensraumbedingungen vorfinden und in hohen Dichten vorkommen. Nicht auszuschließen ist, dass auch Wildkatzen von der hohen Hasendichte als Beute profitieren.
Die Wahl ihrer Jungtierverstecke zeigt, welche bisher unbekannten Strukturen im Offenland als Reproduktionsstätte dienen können und wie wichtig großvolumige Totholzstrukturen am Boden für Wildkatzenmütter sind, um ihre Jungen vor möglichen Feinden zu schützen. In Wäldern müssen Bäume altern dürfen und dem Zerfall überlassen werden. Nur so entstehen Baumhöhlen, die von Wildkatzen bevorzugt aufgesucht werden.
Hintergrund
Auch in Sachsen-Anhalt ist für die Wildkatze seit einigen Jahren ein Trend der Wiederausbreitung zu erkennen. Ausgehend vom Harz, in dem die Art den dramatischen Rückgang durch Lebensraumverlust und Jagd überlebt hat, werden Wildkatzen immer häufiger fernab der Mittelgebirgsregion nachgewiesen. Die Wildkatze scheint sich ehemalige Lebensräume auch nördlich des Harzes in der Altmark, im Fläming und entlang der Elbe zurückzuerobern – eine wahre Renaissance der Wildkatze im Norddeutschen Tiefland! Um die Wiederausbreitung der Wildkatze zu unterstützen, untersucht die Deutsche Wildtier Stiftung erstmals ihre Ansprüche an Lebensräume fernab großflächig bewaldeter Mittelgebirgsregionen. Dabei geht es auch darum, ob größere Gewässer überwunden und wie Ortschaften, die Wildkatzen strikt meiden, in der strukturarmen Kulturlandschaft umgangen werden.
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